Lous Reisen
Lou reiste gern und viel. Dazu gehörten auch ihre jährlichen Besuche bei ihrer Mutter und ihren Verwandten in St. Petersburg. Aber ihre intensive Reiselust setzte erst 1894 ein. Wegen der Unnachgiebigkeit ihres Ehemanns musste sie sich schließlich im Februar 1894 aus ihrer tragischen, weil aussichtslosen Liebesbeziehung (1891-1894) zu Georg Ledebour lösen. Das Ergebnis der für alle drei Beteiligten qualvollen Auseinandersetzungen mit ihrem Mann war bei dieser Affäre, dass sie für sich das Recht errang, bei Wahrung der Äußerlichkeiten ihrer Ehe innerlich frei zu sein und künftig nach ihrem Geschmack zu leben. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte Lou ihre enorme Reiselust. Jahre lang war sie die meiste Zeit nur unterwegs, ließ ihren Mann oft und für lange Zeiten allein und lebte selbst ihr eigenes Leben draußen. Sie machte viele, kleinere und größere Reisen, die aber nicht alle hier erwähnenswert sind. Erwähnt werden sollen jedoch vier davon: die Reisen nach Paris (1894) und nach Wien (1895/96) sowie zwei Russlandreisen.
Paris. Lou unternahm ihre erste Reise nach Paris im Februar 1894 und hielt sich ein halbes Jahr dort auf. Sie war von der Turbulenz des literarisch-künstlerischen Lebens fasziniert und lernte viele maßgebende Figuren dieser Szene kennen, darunter auch viele Prominenten, wie zum Beispiel Frank Wedekind und Knut Hamsun. Eine unbekannte Figur jedoch, der sie in der russischen Kolonie unter den Emigranten begegnete, war der junge russische Arzt K. Ssawélij, mit dem sie mehr oder weniger heimlich für drei Wochen aus Paris verschwand.
Es wird in der Literatur darüber spekuliert, dass es in diesen drei Wochen zu einer spontanen Liebesbeziehung zwischen Lou und ihrem Reisebegleiter Ssawélij gekommen sein muss, so dass die Frage aufgeworfen wird: War dieser Russe, und nicht erst Friedrich Pineles, den sie bald kennenlernen wird, der erste Mann in ihrem Leben? (→ Biographien über Lou, Nr. [9], Peters, 1964, S. 231).
Nach halbjähriger Abwesenheit von Berlin, wo sie ihren Mann in der kleinen Wohnung in Schmargendorf allein zurückgelassen hat, kehrt Lou Ende September heim. Sie berichtet am 22.10.1894 in einem Brief an eine Freundin. "Es sind schon drei Wochen her und mehr, daß ich von Paris ausgerückt bin - mir selbst und allen unerwartet, heimlich und ohne Lebewohl. Und so ungemeldet bin ich auch angekommen, ebenso tief in der Nacht. Ich ließ mein Gepäck am Bahnhof, fuhr hinaus und ging den stillen Weg über die dunklen Felder ins Dorf. Dieser Gang war schön und sonderbar; ich spürte den Herbst im Blättersinken und im stürmischen Wind, ohne was zu sehen, und es gefiel mir; in Paris war noch Sommer gewesen. Im Dorf schlief alles, nur bei meinem Mann brannte die scharfe Lampe, die er zur Benutzung der Bücher auf den hochreichenden Regalen braucht. Ich konnte von der Straße aus seinen Kopf deutlich erkennen. In der Tür steckte, wie immer, der Drücker, ich trat sehr leise ein (...) In dieser Nacht zu Hause gingen wir nicht schlafen; als es hell wurde, da machte ich Herdfeuer in der Küche, putzte die blakende Lampe und schlich mich in den Wald. Da hingen noch dicke Morgennebel in den Bäumen, und ein geflecktes Reh glitt lautlos durch die Föhren weiter. Ich zog Schuh und Strümpfe aus (was man in Paris nicht kann) und wurde sehr froh" [Lebensrückblick, S. 1049].
Um diese Zeit macht sich Lou wieder Gedanken über Gott. Sie wird ab November 1894 in der Küche ihrer engen Schmargendorfer Wohnung an einem kurzen Essay darüber arbeiten, der in wenigen Monaten abgeschlossen sein, 1896 unter dem Titel "Jesus der Jude" erscheinen und 1897 ihrem Schicksal eine unglaubliche Wendung geben wird durch das Geschenk der Liebe von Rainer Maria Rilke. Während also die Götter hinter Lous Rücken diese himmlische Liebe vorbereiten, muss sie erst die obengenannte, irdische Liebe zu Friedrich Pineles erfahren.
Wien. Im März 1895 war Lou mit ihrer Freundin Frieda von Bülow zum Verwandtenbesuch in St. Petersburg gewesen. Auf dem Rückweg treffen sie Ende April in Wien ein. Auch das gesellschaftliche Leben in Wien findet sie faszinierend. Das Zusammengehen von geistigem und erotischem Leben fällt ihr besonders auf. Zuvor hat sie bereits mit prominenten Personen wie dem Schriftsteller Arthur Schnitzler korrespondiert. Jetzt lernt sie ihn und viele andere Prominenten persönlich kennen, darunter auch zum Beispiel die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann. Sie lässt sich gerne in dem bevorzugten Lokal der Wiener Literaten, im Grien-Steidl, sehen und feiern und ist dank ihres Nietzsche-Buches (1894) (→ Werke → Alle Werke) und ihres Romans Ruth als eine philosophische Belletristin bereits eine bekannte und angesehene Persönlichkeit. Zwischendurch sucht Lou eine Weile München und Berlin auf, kehrt aber wieder nach Wien zurück. Im Winter 1985 ist sie zu Gast bei der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder. Hier begegnet sie ihrem nächsten Liebhaber, dem bereits oben genannten Dr. Friedrich Pineles.
Erste Russlandreise. Seit sie einander lieben, wohnt Rilke in Berlin in Lous Nähe, damit sie sich jeden Tag sehen können. "Hatten wir uns unter Menschen kennengelernt", schreibt Lou in ihrem späteren Lebensrückblick im hohen Alter (1931), "so war darüber längst ein zweisames Ineinanderleben geworden, bei dem uns alles gemeinsam war. Rainer teilte ganz unsere sehr bescheidene Existenz am Schmargendorfer Waldrande bei Berlin" [Lebensrückblick, S. 116]. Im August 1898 ist er sogar in die Hundekehlenstraße in Lous unmittelbarer Nähe umgezogen. Sie bereiten sich in der besagten Küche der engen Wohnung des Ehepaars Andreas auf ihre erste, gemeinsame Russlandreise vor, indem sie zusammen russische Sprach- und Literaturstudien betreiben. Der Ehemann Friedrich Carl Andreas sitzt nebenan in seinem Arbeitszimmer und ahnt nicht (?), was da in zwei Seelen geschieht. Am 25. April 1899 treten sie zu dritt die Reise an und sind schon zwei Tage später in Moskau. Sie besichtigen Museen und treffen Maler und Schriftsteller, u.a. auch Leo Tolstój. Auch den Osterfeierlichkeiten im Kreml wohnen sie eines Abends bei, wovon insbesondere Rilke fasziniert und tief berührt ist. Anfang Mai reisen sie nach Petersburg zu Lous Angehörigen weiter. Mitte Juni kehren sie über Danzig zurück und sind am 22. Juni wieder in Berlin. Die ganze Reise ist für Lou in Begleitung ihres Geliebten ein unwiederbringliches Erlebnis, so dass sie noch 35 Jahre später mit 73 Jahren, im Jahre 1934 drei Jahre vor ihrem Tod, wehmütig Rilke hinterherrufen kann:
"Die folgenden Jahre nanntest Du mit Recht 'unseren Aufenthalt in Rußland' - das wir noch gar nicht betreten hatten. Und im Rückblick darauf erscheint mir eben dieser Umstand als etwas Zauberhaftes daran. Denn er erst ermöglichte uns, in all das, was uns Rußland hieß, uns in jeder Hinsicht zu vertiefen: auch in ganz exakte Studien und geduldige Vorbereitungen, über denen die - zeitlich noch nicht bestimmbare - Erwartung schwebte, alles zu persönlicher Anschauung zu bringen. Bereits war es so, als ob wir jegliches mit Händen faßten, leibhaftig; bereits drang etwas davon übermächtig in Deine Dichtung, aber nur erst als gleichsam noch unverantwortlich: - um die ersehnte Versinnbildlichung - wie ein Geschenk - unter russischem Himmel zu empfangen; körperliches Sinnbild dessen zu werden, was in Dir nach Entlastung inneren Überschwanges schrie - -; der Schrei nach 'Gott' (um es in den kürzesten aller Namen zu fassen) - wie nach dem Ort, dem Bild-Raum, worein das Unermeßliche noch im geringsten der Dinge Anwesenheit hat und wo es der Bedrängnis des Dichters zum Ausdruck wird in der Hymne, in Gebet" [Lebensrückblick, S. 141].
Zweite Russlandreise. Diese zweite, 'große' Russlandseite, die (vom 7.5.1890 bis zum 26.8.1890) knapp vier Monate dauert, unternehmen Lou und Rilke 1890 nur zu zweit. Sie verläuft noch reichhaltiger an Erlebnissen und Erfahrungen, ja geradezu überwältigend für sie beide. Aber sie endet auch tragisch mit dem Ende ihrer Liebesbeziehung, weil Lou den Eindruck hat, dass ihr Geliebter seelisch nicht in Ordnung, ja krank ist. Am Ende einer bezaubernden Wolgafahrt, die gut eine Woche dauert und Lou tief berührt und erfreut, steigen sie in Jaroslawl aus dem Dampfer Großfürstin Olga. Als sie in dem nahegelegenen Dorf Kresta-Bogorodskoje zum Übernachten eine Bauernhütte mieten, bittet Lou die Bäuerin um zwei getrennte Schlaflager - zwei gefüllte Heusäcke in zwei getrennten Räumen -, weil sie mit Rilke die Schlafstätte nicht mehr teilen will. Warum nicht? Was ist passiert?
Am 7.5.1890 verlassen Lou und Rilke Berlin und fahren, wieder über Warschau, zunächst nach Moskau. Diesmal nehmen sie sich drei Wochen Zeit dafür und besichtigen die Stadt ausführlicher. Danach reisen sie in die Provinz und besuchen dabei auch einige wichtige Leute, wie zum Beispiel erneut Leo Tolstój. Die Pfingstwoche verbringen sie in Kiew. Hier passiert etwas, was Lous Beziehung zu Rilke wohl irreparabel beschädigt. Ihre obengenannte Distanzierung von seinem Schlaflager in dem Dorf Kresta-Bogorodskoje kann als ein deutliches Symptom des beginnenden Sterbens ihrer Liebe angesehen werden. Vielleicht wird sie später, nach 35 Jahren, einsehen, dass sie hier einen Fehler gemacht hat, vielleicht auch nicht. Dafür ist sie zu selbstsicher und auch unzweifelhaft selbstgerecht und trägt autistisch-autoritäre bis beinahe sadistische Züge.
Angeblich überwältigen ihn die Eindrücke, die während dieser zweiten Russlandreise das Land, die Leute und die Kultur auf Rilke machen. Er soll bereits "einige neurotische Anfälle" gehabt haben, bevor sie in der Pfingstwoche Kiew erreichen. Hier soll er bei dem gewohnten Spaziergang durch einen schönen Akazienwald nicht in der Lage gewesen sein, an einem bestimmten Baum vorbeizugehen. Er habe sich aus Angst davor zu Boden geworfen, habe Weinkrämpfe und "Angstverfassungen und körperliche Anfälle" dargeboten [Lebensrückblick, S. 145 und 277]. Lou ist entsetzt. Später, in ruhigen Phasen, sprechen sie miteinander über diese Vorkommnisse und ihre möglichen Ursachen. Ihre gemeinsame Diagnose, wahrscheinlich eher Lous als Rilkes, ist, dass die Anfälle durch eine Diskrepanz zwischen des Dichters Schaffenwollen und Nichtschaffenkönnen verursacht würden, also eine Art - so würden wir heute sagen - Angst vor Versagen darstellten. Später, nach ihrer Infektion und Indoktrinierung durch die Psychoanalyse (→ Psychoanalyse), kommt Lou zu der Ansicht, dass er ein Neurotiker sei oder gewesen sei und in der frühkindlichen Phase der Reinlichkeitserziehung psychische Schädigungen erlitten habe.
Von Kiew aus führt sie ihr Weg über die Provinz nach Saratow an der Wolga, von wo aus sie am 24.6. den Dampfer Alexander Newskij für die bereits genante, gut einwöchige Wolgafahrt besteigen. Nach dieser Fahrt kehren sie über das Land wieder nach Moskau zurück. Später sind sie wieder an der Wolga, um den Bauerndichter Spiridon Droschin zu treffen, von dem Rilke Einiges gelesen oder übersetzt hat. Von dort erst reisen sie nach St. Petersburg. Einen Tag nach ihrer Ankunft reist Lou am 28.7.1900 allein nach Rongas in Finnland, um ihre Familie zu treffen, die sich dort auf dem Gut ihres Bruders zum Sommerurlaub aufhält. Hier bleibt sie bis zum 20. August und hier faßt sie den Entschluss, sich von Rilke zu trennen. Rilke wartet in St. Petersburg auf sie. Von hier reisen sie am 22.8. ab und kommen am 26.8.1890 in Berlin an. Das Ende der Liebe dokumentiert Lous Letzter Zuruf.