Lou und die Psychoanalyse
Die Psychoanalyse ist eine - heute nicht mehr einheitliche - Methode der Untersuchung und Behandlung von Störungen des seelisch-körperlichen Befindens und Verhaltens, also ein praktisches Heilverfahren. Das ihr zugrunde liegende Gedankengebäude ist die Theorie der Psychoanalyse, auch psychoanalytische Theorie oder Tiefenpsychologie genannt. (Allerdings gibt es auch davon heute Hunderte und Tausende, die alle voneinander abweichen: "Jeder hat seine eigene Theorie", weil es keine allgemein verbindlichen Kriterien der Wissenschaftlichkeit gibt und je geben wird.) Entstanden um das Jahr 1900 herum, liegt der Tiefenpsychologie das Postulat zugrunde, dass das Seelenleben ("die Psyche") jedes Menschen auch einen Bereich hat, der ihm völlig unbewusst und daher unzugänglich ist - "das individuelle Unbewusste" - und nur durch die Psychoanalyse zugänglich gemacht werden kann. Begründet wurde sie durch den Wiener Neurologen und Psychiater Sigmund Freud. Freud erfand das genannte Postulat nach seinen Beobachtungen, die er zusammen mit seinem Kollegen Joseph Breuer gemacht hatte, als sie gewisse neurologisch-psychiatrische Fälle (speziell: hysterische Lähmungen und andere hysterische Störungen) durch Gespräch und Suggestion in der Hypnose behandelt hatten. Freud nahm an, dass man durch Gespräch und Suggestion in der Hypnose an verborgene Spuren von Erlebnissen und Vorstellungen herankommt, die wegen ihrer gesellschaftlichen Ächtung und der Angst des Individuums vor dieser Ächtung unterdrückt und verdrängt werden. Dadurch würden sie in das Unbewusste hinabtauchen und dem Bewusstsein entzogen. So kam er auf die Idee, statt der Beeinflussung des Unbewussten auf die bisherige Weise - durch Gespräch und Suggestion in der Hypnose - einen direkten Zugang zu dem Unbewussten zu schaffen dadurch, dass man den Patienten im Wachzustand auffordert, auf gewisse Fragen antwortend, jeden spontanen Einfall ohne jedes Unterdrücken und Verdrängen zu erzählen. Diese von ihm erfundene Grundmethode der Psychoanalyse nannte er die freie Assoziation. Das ist die berühmte Couch des Psychoanalytikers, auf der der Patient ohne Blickkontakt zu ihm liegt und seinen Einfällen freien Lauf lässt. So können - angeblich - auch in das Unbewusste verdrängte Erlebnisse, Gefühle, Vorstellungen und Gedanken wieder den Weg ins gegenwärtige Bewusstsein finden und artikuliert werden. Auf diesem Wege könne der Psychoanalytiker den Menschen auf der Couch wieder so herrichten, wie er ihn haben will (!).
Freuds Theorie ging zwar ursprünglich von den hysterischen Störungen aus. Aber sie war jetzt so allgemein formuliert, dass das gesamte psychisch-emotionale Befinden und Verhalten ihr Gegenstand war. Im Vordergrund standen die Neurosen. Die Theorie rief eine kontroverse Resonanz hervor. Am Anfang waren die Befürworter in der Minderheit. Ihre Zahl stieg jedoch stetig und die Theorie verbreitete sich wie ein Lauffeuer schnell über die ganze Erde. Eine wissenschaftliche Gesellschaft nach der anderen wurde dafür gegründet, so auch die Internationale Psychoanalytische Gesellschaft. Diese Gesellschaft hielt ihren ersten Kongress im Jahre 1908 in Salzburg ab. Am 21.9.1911 fand ihr dritter Kongress in Weimar statt ("Der Weimarer Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft"). Aus vielen Teilen der Welt waren etwa fünfundfünfzig Teilnehmer gekommen. Anwesend war natürlich auch Freud selbst. Der amtierende Präsident der Gesellschaft, und somit auch der Leiter des Kongresses, war der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, der sich bald von der Freudschen Tiefenpsychologie des individuellen Unbewussten lösen und die eigene, völlig andersartige Theorie des kollektiven Unbewussten aufstellen sollte. Obwohl fachfremd und lediglich ein Laie, gehörte zu den Kongressteilnehmern auch Lou Andreas-Salomé. Sie wurde sogar persönlich Freud vorgestellt. Zu dieser Zeit war sie bereits 50 Jahre alt. Ihre Anwesenheit in Weimar sollte ihrem Leben eine unerwartete, neue Richtung geben. Wie kam sie als ein Laie dazu, in solch eine schicksalsträchtige Gelegenheit zu geraten?
Eine grundlegende Rolle in der Freudschen Tiefenpsychologie spielen der Sexualtrieb ("die Libido") und die Art und Weise, wie die Psyche mit den Impulsen der Libido, das heißt also mit den erotisch-sexuellen Regungen, Bedürfnissen, Vorstellungen und Wünschen, umgeht und sie bewusst und unbewusst verarbeitet. Lapidar könnte man sagen, dass dieser Theorie zufolge "psychisch gestört wird jemand, dessen psychischer Umgang mit seiner Libido nicht in Ordnung ist" (Stichwort: Freuds berühmte Erfindung "Der Ödipuskomplex"). Lassen wir hier einmal das Problematische dieser Formel beiseite, weil andernfalls sich die ganze Formel verflüchtigen könnte. Aus ihr leitet die Freudsche Schule durch Umkehrschluss die Empfehlung ab, eine gestörte Psyche dadurch zu behandeln, dass man eine Korrektur dieses Umgangs mit der Libido und seiner Spuren im Unbewussten mittels der Psychoanalyse vornimmt. Die Couch des Psychoanalytikers ist der Ort dieser Korrektur durch die freie Assoziation, die der Psychoanalytiker gemäß seiner Theorie dirigiert.
Mit psychologischen Fragen und Theorien hatte sich Lou schon in der Vergangenheit beschäftigt, als sie sich mit Nietzsche, Ibsen oder der Erotik des Menschen befasste und darüber ihre Werke schrieb. Schon lange bevor sie Freud, seine Theorie des Unbewussten und seine Psychoanalyse kennenlernt hat, auch bevor überhaupt Freuds Idee des Unbewussten entstanden und bekanntgeworden ist, schreibt sie im Jahre 1898 in ihrem Erzählwerk Fenitschka: "Unser Leben hängt viel weniger von dem ab, was wir bewußt erfahren, als von heimlichen, unkontrollierbaren Nerveneindrücken". Während der Jahre 1906-1910 arbeitete sie an ihrem Essay Die Erotik, erschienen 1910, welcher philosophisch-psychologische Betrachtungen über die Liebe und Sexualität anstellt. In dieser Zeit wurden ihr beim Nachdenken über die Thematik ihre eigene Erotik und Sexualität, insbesondere in Verbindung zu ihrem derzeitigen Liebhaber Friedrich Pineles, zu einem Problem. Dieses Problem muss wohl Lou eine lange Zeit beschäftigt und eine Wende in ihrem Innenleben und Denken herbeigeführt haben. In dieser Wende ist ihre Empfänglichkeit für die Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu erblicken und ein Grund ihrer bevorstehenden Entscheidung, sie sich anzueignen. Diese Empfänglichkeit und Entscheidung fanden die notwendige Atmosphäre anlässlich des folgenden Besuches von Lou in Schweden:
Von Mitte August bis Mitte September 1911 ist Lou in Alvastra in Schweden Gast ihrer Freundin, der schwedischen Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key. Sie lernt dort einen schwedischen Nervenarzt und Psychotherapeuten aus Stockholm kennen, der sich schon seit Jahren mit der Freudschen Tiefenpsychologie beschäftigt. Er weckt in Lou nicht nur Interesse für diese Tiefenpsychologie, sondern erobert auch ihr Herz. Er, Dr. Poul Bjerre, will gleich am 21. September am Weimarer Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft teilnehmen, um dort einen Vortrag zu halten. Lou begleitet ihn. Sie brechen am 20.9. nach Weimar auf. Sie ist von dem Kongress und dessen Gegenstand, der Tiefenpsychologie, begeistert. Sie will nunmehr unbedingt diese neue Wissenschaft und Praxis der Psychologie ernsthaft kennenlernen und lernen. Bjerre, der mit Freud persönlich bekannt ist, stellt sie deshalb auch persönlich Freud vor. Als sie Freud ihren heftigen Wunsch, die Tiefenpsychologie zu erlernen, vorträgt, hat er dafür nur ein Lächeln übrig. Später jedoch wird er sich wundern.
Lou eignete sich zunächst, auch mit Hilfe von Poul Bjerre, die Grundkenntnisse an. Sie holte sich dann per Korrespondenz mit Freud von ihm persönlich die Zusage ein, dass sie an seinen Mittwoch-Kolloquien in Wien teilnehmen und dort diese Wissenschaft lernen dürfe. Vom 25.10.1912 bis zum 6.4.1913 war sie zu diesem Zweck ein halbes Jahr lang in Wien und widmete sich an der Quelle dem intensiven Lernen der Theorie und Praxis der Psychoanalyse. Aus ihrer Beziehung zu Freud wurde eine freundschaftliche, ja eine Freundschaft zwischen dem Meister, der die intelligente und attraktive Schülerin verehrt, und der Schülerin, die dem großen Meister Sympathie und Hochachtung entgegenbringt. Eine regelmäßige, ein Vierteljahrhundert lang anhaltende Korrespondenz bis zum Tode von Lou im Jahre 1937 verband sie miteinander (→ Briefwechsel Lou/Freud: Eintrag Nr. [16] in Lous Andere Beiträge).
Während dieses Studiensemesters 1912-13 bei Freud in Wien war Poul Bjerre nicht da. Trotz ihrer fast 52 Jahre wirkte Lou noch jugendlich. Ihre erotische Ausstrahlung - vielleicht eher ihr erotisches Gebaren - verwirrte nach wie vor die Männer in der Runde, zumal dank der Eigenart der psychoanalytischen Theorie die Erotik und Sexualität im Mittelpunkt der Vorträge und Gespräche standen. Mehrere Männer buhlten miteinander um Lous Gunst, unter ihnen auch der junge Baron Victor Emil Freiherr von Gebsattel und ein anderer junger Mediziner, Victor Tausk.
Nach Zusatzstudien und Erfahrungen eröffnete Lou im Jahre 1915 in ihrem Wohnort Göttingen (→ Göttingen) eine psychoanalytische Praxis. Aus der Dichterin und Quasiphilosophin wurde eine Psychotherapeutin.