Lou und Gott
Lous Mutter war kalt. Wärme, Herzlichkeit und Liebe erfuhr sie von ihrer Amme und außerdem in erster Linie, wenn auch vor der strengen Mutter verborgen, von ihrem Vater. Es gab viel Personal im Haus (Dienstboten, Kutscher, Diener, etc.) und viel Kommen und Gehen. Die kleine Lou, die in diesem Haushalt und Milieu viele Rollen spielen mußte, tat sich schwer, "eine bestimmte Person" zu sein. Diese Identität fand sie in einer neuen Rolle, die sie sich ausdachte, nämlich, "immer mit Gott zusammen" zu sein. Ihn, diesen frühen Gott, vielleicht eine Art idealisierten Vaters, erlebte das Kind Lou "als mein ganz alleiniger Spezialgott dadurch, daß er ein Gott der Opposition war", ein Vertrauter, der immer anwesend war und das Kind gegenüber der Welt beschützte.
"Meine früheste Kindheitserinnerung ist mein Umgang mit Gott. Es klingt wunderlich, wenn man es ausspricht. Aber offenbar verblaßten dieser Erinnerung gegenüber in meinem Bewußtsein allmählich die ersten Eindrücke des häuslichen Lebens, der Familienbeziehungen, des Spiels mit den Altersgenossen. Von den formlos ineinander rinnenden Bildern und Szenen dieser frühen Lebensjahre hob sich später, wie von buntgewirktem Hintergrund, in großen, einfachen Umrissen nur das Eine Bild ab, das in seiner eigentümlichen Monotonie sich gleich blieb die ganze Kindheit hindurch - der Umgang mit Gott" [Gottesschöpfung 1892, S. 169].
Ihre Beziehung zu diesem Kindergott, ihrem "Lieben Gott", war allerdings nicht eine religiöse wie bei Erwachsenen, sondern sie betrachtete ihn als ihr "Eigentum", dem sie Geschichten erzählte, die Wirklichkeit und Phantasie untrennbar vermischten. Durch dieses Reden mit Gott in Form von Tagträumen schuf sich Lou eine Innenwelt als Ersatz für das, was ihr die Familie nicht geben konnte, und leistete dadurch eine kreative Bewältigung ihrer Einsamkeit. Sie wurde jedoch bald erschüttert durch eine Frage, die das Kind an seinen Lieben Gott richtete und für die sie keine Antwort erhielt. Da verlor sie spontan ihren Glauben an Gott. Das war der erste große Schrecken mit weitreichenden Folgen, den sie in ihrem Leben erlebt hat. Darüber berichtet sie in [Lebensrückblick, S. 15-16]:
Der Schrecken bestand in nichts geringerem als Lous spontanem "Gottverlust". Er vollzog sich völlig zufällig und unerwartet. Einer der Knechte, der einmal wöchentlich aus dem Landhaus der Familie frische Eier in die Stadtwohnung brachte, erzählte ihr eines Tages, er habe zwei alte Leutchen vor dem kleinen Sommerhaus stehen sehen, das Lou gehörte. Sie hätten um Einlaß gebeten, aber er hätte sie abgewiesen. Sie hörte es mit Bestürzung. In der nächsten Woche, als der Knecht wiederkam, erkundigte sie sich nach den beiden Alten. Sie seien zunehmend dünner geworden, berichtete er, bis er eines Morgens nur noch die schwarzen Knöpfe des weißen Mantels der Frau und den zerbeulten Hut des Mannes vorgefunden habe. Der ganze Boden sei mit ihren vereisten Tränen bedeckt gewesen.
Sie hatte nicht verstanden, daß es sich um zwei Schneemänner gehandelt hatte, die in der Frühlingssonne geschmolzen waren. Die Erzählung beunruhigte sie sehr. In Erinnerung an diese Begebenheit schreibt sie noch im Alter: "Das Unbegreifliche an dieser Schauermär enthielt für mich nur seinen schärfsten Stachel nicht mehr im Mitleid mit den Beiden, sondern am Rätsel der Vergänglichkeit, Zerschmelzbarkeit von so fraglos Vorhandenem: als hielte irgend etwas die naheliegende Lösung als eine allzu harmlose von mir fern, während doch alles in mir in steigender Leidenschaft Antwort heischte. Wahrscheinlich noch in derselben Nacht focht ich dieses Antwortheischen mit dem Lieben Gott aus. Für gewöhnlich hatte er sich ja damit nicht zu befassen, er hatte bei mir sozusagen nur Ohr zu sein für das, was er selber bereits wußte. Auch diesmal mutete ich ihm nicht viel zu: seinem stummen Munde brauchten ja nur ein paar kurze Worte über die unsichtbaren Lippen zu gehen: 'Herr und Frau Schnee'. Daß er sich dazu nicht verstand, bedeutete jedoch eine Katastrophe. Und es war nicht nur eine persönliche Katastrophe: sie riß den Vorhang auseinander vor einer unaussprechlichen Unheimlichkeit, die dahinter gelauert hatte. Denn nicht nur von mirhinweg entschwand ja der Gott, der auf den Vorhang aufgemalt gewesen war, sondern überhaupt - dem ganzen Universum - entschwand er damit" [Lebensrückblick, S. 15-16].
So wurde Lou schon früh "gottlos". Eine Wunde blieb zurück, die nie heilen sollte. Ihr ganzes Leben lang suchte sie vergeblich nach diesem verlorenen Gott ihrer Kindheit. Ihr erstes Buch, das sie schon mit 24 Jahren veröffentlichte, trug einen entsprechenden Titel: Im Kampf um Gott. Es ist ein Roman und behandelt die existentielle Frage: Was geschieht, wenn der Mensch seinen Glauben verliert? Philosophisch tiefer schürfend sollte das Thema sie auch später wiederholt beschäftigen, so in ihrem Artikel Jesus der Jude(1896), der ihr das legendäre Liebeserleben mit Rainer Maria Rilke vermittelte und dadurch ihr Leben bis an sein Ende gestaltete.
Als sie 17 Jahre alt war (- ihr Vater war todkrank -), besuchte sie, um ihn nicht zu enttäuschen, den Konfirmationsunterricht bei Hermann Dalton. Aber wegen der überkritischen Haltung von Lou verstanden sie sich nicht. Eine Verwandte Lous empfahl ihr, sich eine Predigt des fortschrittlich denkenden Pfarrers Hendrik Gillot anzuhören. Das tat sie dann auch. Bereits die Art, wie er ging, sich bewegte, die Kanzel betrat und sprach, beeindruckte Lou spontan und unwiderstehlich. "Nun hat alle Einsamkeit ein Ende - das ist es ja, was ich gesucht - ein Mensch - ich muß ihn sprechen ...". [Lebensrückblick, S. 222].