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Lou

Liebschaften

 

Liebeleien

Lou und Hendrik Gillot

Hendrik Gillot (1836-1916) war ein Pfarrer holländischer Abstammung. Mit siebenunddreißig Jahren übernahm er im Jahre 1873 die Aufgaben eines Pastors an der holländischen Gesandtschaft in St. Petersburg. Er predigte - deutsch oder niederländisch - in einer kleinen Kirche im vornehmen Viertel der Stadt.Gillot Er war ein liberaler, brillanter, protestantisch-unorthodoxer Redner. So erwarb er bald in weiten Kreisen, insbesondere bei den aristokratischen Familien, Ruhm und Ansehen. Seine Kirche war immer überfüllt. Der schöne Mann, der faszinierende Plauderer und Schauspieler wurde von den weiblichen Mitgliedern seiner Gemeinde verehrt.

General von Salomé, Lous Vater, hatte einst vom Zaren die Erlaubnis zur Gründung einer evangelisch-reformierten Kirche in St. Petersburg erhalten. Als Lou 17 Jahre alt war, lag ihr geliebter Vater schon todkrank im Krankenlager. Ihm zuliebe nahm sie am Konfirmationsunterricht bei dem Pastor Hermann Dalton teil, um wie ihre Brüder in der Religionsgemeinschaft des Vaters eingesegnet zu werden. Um diese Zeit befand sie sich aber bereits in einer Gewissens- und Glaubenskrise, und deshalb im ständigen Streit mit Pastor Dalton. Der Empfehlung einer Verwandten folgend, besuchte sie Anfang Mai 1878 in ihrer Begleitung eine Predigt des Pastors Hendrik Gillot, den sie bisher nicht kannte. Ohne viel drum herum zu reden, um die Tatsachen zu verschleiern, wie sie es in ihrem Lebensrückblick tut und alle Autoren es ihr nachmachen, in einem Wort gesagt: Sie verliebte sich auf der Stelle in diesen um 25 Jahre älteren Pfarrer.

Pfarrer Gillot war verheiratet und hatte zwei Kinder ungefähr gleichen Alters wie Lou. Als er die Kanzel betrat, sich in der ihm eigenen Weise bewegte und sprach, wusste Lou sofort, dass sie zu ihm gehöre: "Nun hat alle Einsamkeit ein Ende ... das ist es ja, was ich gesucht ... ein Mensch ... er ist ... ich muss ihn sprechen". Was er sagte, war für sie nicht entscheidend.

Sie erfragt seine Adresse und schreibt an ihn einen Brief. Sie wünsche eine Unterredung mit ihm – aber nicht wegen religiöser Skrupel. Der schwermütig anmutende Brief berührt Gillot, er lädt sie zu sich ein. "Die Hand auf das Herz gedrückt", steht sie vor seinem Arbeitszimmer. Er öffnet die Tür und ist von dem hochgewachsenen, jungen Mädchen spontan eingenommen. Er breitet seine Arme aus und spricht: "Kommst du zu mir?". Zuerst besucht sie ihn heimlich weiter. Er bereitet sie auf das Studium vor, sie arbeiten zusammen – Lou mit solchem Einsatz, dass sie einmal auf seinen Knien ohnmächtig wird. Die Themen, die sie bearbeiten, waren anfangs mehr religionsgeschichtlicher und religions-philosophischer und später mehr philosophischer Natur. Gillot unterrichtete sie systematisch in Philosophie. Im besondern lasen sie Kant zusammen, auf Holländisch. Manchmal schrieb Lou für ihn auch seine Predigten. Nach längerer Zeit sagt ihr Gillot, sie solle es ihrer Mutter mitteilen. Lous Vater war kurz vorher, am 23.2.1879, verstorben. Sie hält sich so genau an Gillots Wort, dass sie sogleich vor die Mutter tritt, während sie eine Gesellschaft hat: "Ich komme von Gillot". Die Mutter bricht in Tränen aus. Gillot wird von ihr empfangen. Die heimlich lauschende Lou hört ihre Mutter sagen, "Sie machen sich schuldig an meiner Tochter", und Gillot antwortet: "Ich will schuld sein an diesem Kinde". Von da ab darf sie ihn frei besuchen. Die Arbeit überschreitet die Grenzen ihrer gesundheitlichen Kraft. "Ich musste ihm folgen, er war ja Er – und er war es nicht mehr, als er mich verkannte". Er machte ihr nämlich einen Heiratsantrag. Sie lehnte ab. Denn sie liebte ihn offenbar nicht als Mann, sondern als einen "Gottmenschen" [Lebensrückblick, S. 28], der sie liebte, sie aus ihrer Einsamkeit erlöste und ihr die vermisste Wärme gab. Er führte sie in das von ihr ersehnte geistige Leben ein und eröffnete ihr Perspektiven in eine Welt frei von Fesseln und Konventionen. So konnte er den Platz einnehmen, der seit dem Verlust des Lieben Gotts ihrer Kindheit leer geblieben war, indem sie ihn "unter dem Schleier der Vergottung" sah. Nun begab sich aber dieser Gottmensch auf die Stufe des Menschen und traf hinter dem Rücken von Lou Scheidungsvorbereitungen, um sie zu heiraten. Als er es ihr eröffnete, brach für sie eine Welt zusammen. "... hatte ihn meine anhaltende Kindhaftigkeit ... gezwungen, zunächst vor mir zu verheimlichen, dass er die familiären Vorbereitungen zur Verbindung zwischen uns schon veranlasste. Als der entscheidende Augenblick unerwartet von mir forderte, den Himmel ins Irdische niederzuholen, versagte ich" [Lebensrückblick, S. 29].

Ihre Beziehung zu Gillot hat Lou später in ihrem 1895 erschienenen Roman Ruth verarbeitet. Ihre Erinnerung an dieses erste "Liebeserleben" und ihre Dankbarkeit an den Geliebten Gottmenschen findet man in ihren späteren Gedichten Durch Dich und Todesbitte (→ Lexikon).

Inzwischen ist Lou aus der Kirche ausgetreten. Deshalb bekommt sie von den russischen Behörden keinen Reisepass, als sie nach Zürich gehen will, um dort zu studieren (→ Studium). Notgedrungen lässt sie sich am 22.5.1880 durch Gillot persönlich in einer kleinen Dorfkirche in Santpoort (Niederlande), in der ein Freund von ihm amtiert, konfirmieren. "Wir waren in dieser seltsamen Feier ... beide ergriffen: galt es doch nun die Trennung voneinander - die ich fürchtete wie den Tod. Meine Mutter, die mit uns dorthin gereist war, verstand zum Glück kein Wort der lästerlichen holländischen Rede und auch nicht die Einsegnungsworte, die den Schluß bildeten - fast wie Worte einer Trauung: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erwählt: ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein" (Jesaja 43, Vers 1) [Lebensrückblick, S. 30-31]. Lou hat später Gillot auch dazu genötigt, sie und ihren Mann Friedrich Carl Andreas am 20.6.1887 in derselben Kirche zu trauen (→ Ehe).