Lou und Paul Rée
Paul Rée (1849-1901), Sohn eines Rittergutsbesitzers aus Pommern, studierte zunächst in Leipzig Jura. In dieser Zeit nahm er freiwillig am Deutsch-Französischen Krieg teil und wurde verwundet. Nach dem Krieg studierte er in Halle und Basel Philosophie. Dabei lernte er auch den Philosophen Friedrich Nietzsche kennen, als er 1873 in Basel bei ihm Vorlesungen hörte. Im Jahre seiner Promotion, 1875, veröffentlichte er Aphorismen in einem Büchlein des Titels Psychologische Beobachtungen. Dieses Büchlein erregte Nietzsches Interesse. So entstand zwischen den beiden Männern eine Freundschaft. Beide Männer waren auch mit Malwida von Meysenbug in Rom freundschaftlich verbunden.
Wegen einer schweren Erkrankung hatte Lou ihr Studium an der Universität Zürich abgebrochen und hatte sich Anfang 1882 in eine wärmere Klimazone (Rom) begeben. Sie begegnet Dr. Paul Rée an einem Märzabend des Jahres, "während bei Malwida von Meysenbug ein paar Freunde beisammensaßen" [Lebensrückblick, S. 75]. In diesem Augenblick kommt Rée von einem verlustreichen Spiel in Monte Carlo schnurstracks zu Malwida, um von ihr Geld zu pumpen. Er war Jude, litt unter seiner Abstammung, war eine sehr feine, liebevoll-sensible Persönlichkeit mit einer pessimistischen Weltanschauung, zwölf Jahre älter als Lou. Es gibt viele Gesprächsthemen zwischen den beiden. Im Verlaufe der nächsten Zeit entwickelt er Sympathie für die gut aussehende, intelligente, blonde junge Frau, die er bewundert.
Bald verliebt er sich in Lou und trägt sich mit dem Gedanken, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Dabei hatte sie ihm aber schon unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass der Petersburger Pfarrer Hendrik Gillot ihre erste, große und letzte Liebe gewesen sei. Das Kapitel Liebe sei damit für sie abgeschlossen. Sie wolle sich nicht binden. Auch sie mag Paul Rée zweifellos. Aber lieben? Deshalb unterbreitet sie dem enttäuschten Liebhaber einen anderen Vorschlag, nämlich den Plan eines kameradschaftlichen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens von mehreren Personen in einer Wohnung - was wir heute eine Wohngemeinschaft nennen. Natürlich denkt sie nicht an erotisch-sexuelle Beziehungen, sondern nur an eine geistig-seelische Gemeinschaft. Nach anfänglichen Bedenken akzeptiert Rée den Plan und respektiert Lous Grenzziehung, damit er sie nicht verliert. Nach der damals herrschenden Sitte klingt und ist Lous Plan unerhört. Deshalb sind ihre Mutter und Malwida empört und vehement dagegen. Die Mutter schaltet sogar brieflich Hendrik Gillot ein. Auf seine kritische Beurteilung der Lage erhält er jedoch von Lou einen gepfefferten Brief. Die erst 21 Jahre junge Frau verteidigt selbstbewusst und heftig ihren Widerstand gegen die tradierte Moral. Diesem Brief ist zu entnehmen, dass sogar eine bestimmte dritte Person in ihrer Abwesenheit schon für die Wohngemeinschaft vorgesehen ist, ein Mann, den Lou zu diesem Zeitpunkt persönlich unmöglich kennen kann. Der Vorschlag kann daher nur von Rée gekommen sein. Denn es handelt sich um seinen Freund Friedrich Nietzsche. Unabhängig davon und im Voraus, ohne Nietzsche zu kennen, hat sich Lou innerlich dennoch schon für Rée entschieden. Sie gesteht in ihrem Brief an Gillot: "... das Wesentliche ist menschlich für mich nur Rée ...". Diese Entscheidung beruht darauf, dass der Mensch Rée für Lou hervorragend, jedoch als Mann erotisch unattraktiv ist und sie daher nicht beunruhigt. Sie sieht in ihm einen Bruder [siehe Cordula Koepke, 1986, S. 67].
Nietzsche ist inzwischen wegen seiner Krankheit frühpensioniert und hält sich deshalb in wärmeren Klimazonen auf. Zu diesem Zeitpunkt, Ende März 1882, als er in einem Brief von Paul Rée aus Rom über Lou und ihre Vorzüge erfährt, befindet er sich in Genua. Aber er zeigt noch keine besondere Reaktion und kommt noch nicht nach Rom. Er fährt nach Messina auf Sizilien. Da die Salomés nun aus Rom abreisen wollen, schreibt Rée dringend an Nietzsche nach Messina und macht ihm diesmal den Mund wässerig, indem er ihm auch den Lou-Plan einer Wohngemeinschaft offenbart. Nietzsche fühlt sich diesmal direkt angesprochen, aber er wollte wahrscheinlich auch ohnehin wegen eines bösen Migräneanfalls Sizilien wieder verlassen. Er trifft am 24.4.1882 in Rom ein und ist spontan von Lou begeistert. So gewinnt der Lou-Plan, dem man nunmehr - mit unabsehbaren Folgen - die Gestalt einer heiligen Dreieinigkeit geben möchte, augenblicklich ihn als den Dritten im Bunde. Doch die Idee der Dreieinigkeit wird nicht realisiert werden können, weil Lou wiederholt Nietzsches Heiratsantrag ablehnen wird, was einige Komplikationen für die Dreieinigkeit mit sich bringt.
Anfang Mai 1882 verlassen die drei in Begleitung von Lous Mutter Rom, weil Frau von Salomé beschlossen hat, mit ihrer Tochter über die Schweiz und Deutschland nach St. Petersburg zurückzukehren. Ihr Weg führt sie am 5.5.1882 über Orta nach Luzern. Hier in Luzern entsteht auch das berühmte Foto der Dreieinigkeit. Nietzsche fährt dann über Basel zu seiner Familie in Thüringen. Rée begleitet die beiden Damen nach Zürich. Von dort aus reist er allein nach Hause zu seiner Familie auf dem Rittergut Stibbe bei Tütz in Westpreußen. Die beiden Damen, Mutter und Tochter, halten sich noch ein paar Wochen in Zürich auf und fahren danach zu den Verwandten der Mutter nach Hamburg. Diese kann den Widerstand von Lou, mit ihr nach Hause zurückzukehren, nicht brechen, weil sie lieber zu Paul Rée fahren möchte. Die Mutter ruft ihren Sohn Eugène aus St. Petersburg zu Hilfe. Schließlich einigt man sich darauf, dass er Lou zu Rées Familiengut nach Stibbe begleitet, wohin Rée sie eingeladen hat, und sie dort der Mutter von Rée anvertraut. Sie bleibt dort gut einen Monat lang bis einige Tage vor dem Beginn der Bayreuther Festspiele am 26.7.1882, wo sie mit Malwida von Meysenbug verabredet ist und durch sie bei dieser Gelegenheit Richard Wagner kennenlernt. Von hier aus folgt sie einer Einladung und fährt nach Tautenburg in Thüringen zwecks eines Besuchs bei Nietzsche.
Nachdem sie nun jetzt und auch wenig später Nietzsche gründlich kennengelernt hat, geht die Idee der Dreieinigkeit schließlich in eine Zweieinigkeit über, die nur aus Lou und Rée besteht. Was Lous "innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée bei mir schlecht machen sollten" [Lebensrückblick, S. 85]. Bereits ab Ende des Jahres 1882 wohnen Lou und Rée in Berlin zusammen. Das werden sie bis 1885 tun und diese Jahre werden in Lous Leben zu den glücklichsten gehören. Doch wie erlebte Rée diese Jahre?
Sie bewohnen in Berlin eine Dreizimmerwohnung. Weil sie nicht miteinander verheiratet sind, nimmt man an, dass es sich um eine - damals verpönte - wilde Ehe handelt. Aber obwohl sie in einer Wohngemeinschaft eng zusammenleben, sind sie doch kein Liebespaar im gewöhnlichen Sinne. Lou ist jung, schön, attraktiv, intelligent und geistreich. Sie führen geistreiche Gespräche miteinander. Rée seinerseits ist rührend zu ihr, bietet ihr dank seiner Herzensgüte Geborgenheit und sie kommt immer sehr gerne nach Hause. Aber sie betrachtet ihn nur als einen Bruder von sich und leistet dem Aufflammen seiner Leidenschaft stets Widerstand, obwohl er sie eingestandenermaßen liebt und begehrt. Ihre erotische Distanziertheit fördert zweifellos seinen ohnehin vorhandenen Minderwertigkeitskomplex, und er leidet sehr unter der Angst, dass er Lou unsympathisch sei. Sie merkt es und sie weiß es. Aber weder dieses Wissen noch die enge Vertrautheit ihrer Beziehungen verursachen ihr etwa schlaflose Nächte. Ganz im Gegensatz zu ihr verlässt Rée oft nachts ruhelos die Wohnung und wandert einsam durch Berlins menschenleere Straßen. Es spricht gegen Lou, aber vielleicht war das auch eine Art Zwangsneurose oder Sadismus bei ihr, die Männer - unbewusst - quälen zu müssen. Es spricht jedenfalls gegen sie und dagegen, dass sie besonders feinfühlig gewesen sein kann, wenn sie die inneren Qualen, denen sie den verliebten, hörigen Rée durch ihre mehr oder weniger intime Nähe und durch sein Zwangszölibat aussetzt, nicht bemerkt oder ignoriert. Ihr Verhalten erinnert daran, wie sie einst mit 18 Jahren auf den Knien des verheirateten Pfarrers Hendrik Gillot saß, aber sich darüber wunderte, dass sie dadurch nur seine Gefühle verwirrte.
Sie halten sich in den Jahren 1883-84 eine Zeitlang in Gries-Meran auf. Um ihre Familie in Petersburg, die nach wie vor darauf besteht, dass Lou zurückkehrt, durch das Anvisieren einer schriftstellerischen Karriere zu beeindrucken, schreibt sie hier ihr erstes Buch Im Kampf um Gott. Rée arbeitet an seinem als Habilitationsschrift geplanten Buch Die Entstehung des Gewissens. Aber die Habilitation misslingt. Die Universität Straßburg lehnt die Arbeit ab. Als Philosoph "gescheitert", nimmt Rée im Wintersemester 1885 in Berlin ein Medizinstudium auf. Angeblich aus diesem Grunde - weil Rée wegen der Früharbeit in der Anatomie morgens früh aufstehen und aus dem Hause gehen muß - trennen sie sich, damit Rée allein wohnen kann, um Lou nicht zu stören, da sie beide der Meinung sind, dass sie sich ohnehin "nie trennen würden" [Lebensrückblick, S. 92]. Aber es kommt anders. Bald klopft in der Pension, in der Lou nunmehr allein wohnt, ein unbekannter Mann bei ihr an und stellt sich ihr an der Tür vor: Friedrich Carl Andreas. Er will sie heiraten. Lou, die alle Männer bisher abgewiesen hat, ist zum ersten Male außerstande, diesem Sonderling Widerstand zu leisten. Es kommt in der Tat zur Verlobung und Eheschließung.
Vor der Verlobung schon erzählt Lou Paul Rée den Vorfall und ihre Absicht, "wenn Du nichts dagegen hast". Rée kann nur resigniert einwilligen: "Wie Du's machst, ist's gut" [Lebensrückblick, S. 254]. Lou wollte sehr wahrscheinlich ihren alten Traum von der Dreieinigkeit neu inszenieren. Aber Rée wollte mit dem Auserwählten nicht konfrontiert werden. Im Vorfrühling 1887 verlässt er Berlin und lässt nie wieder etwas von sich hören. Etwa ein Jahr danach schreibt Lou am 17.3.1888 in ihr Tagebuch: "Heute vor sechs Jahren lernte ich Dich kennen .... Ich träume oft von Dir; nichts Besonderes, immer dasselbe und Einfache: dass ich Dich wiedersehe, und dann weine ich im Traume. Manchmal geschieht es mir, dass ich mich bewege oder spreche wie Du, - ganz unwillkürlich und zufällig, - dann fühle ich immer, wie lieb ich Dich habe. Ich erinnere mich eines Zankes zwischen uns, bei welchem Du, mitten aus der Entzweiung heraus, mit Deinem Gemisch von Güte und Ironie sagtest: > wenn wir uns ganz zerzankten und nach Jahren zufällig irgendwo wiederfänden, - wie schrecklich würden wir uns Beide freuen! <. Und Deine Augen standen plötzlich voll Wasser. Das fällt mir jetzt so oft ein und ich denke: Ja, Ja." [Lebensrückblick, S. 255].
Rée beendet sein Studium in München und erwirbt dort auch seinen medizinischen Doktorgrad. Im Jahre 1890 lässt er sich als Armenarzt in Stibbe nieder. Während er am 28.10.1901 bei Celerina im Oberengadin eine Bergwanderung macht, stürzt er tödlich in den Inn ab. Lou ist von der Nachricht tief erschüttert. Aber erst im Alter wird sie einsehen, dass sie ihn damals gekränkt hat.
"Der letzte Abend, da er von mir fortging, blieb mit nie ganz verglimmendem Brand mir im Gedächtnis haften. Spät in der Nacht ging er, kehrte nach mehreren Minuten von der Straße zurück, weil es zu sinnlos regne. Worauf er nach einer Weile wieder ging, jedoch bald nochmals kam, um sich ein Buch mitzunehmen. Nachdem er nun fortgegangen war, wurde es schon Morgen. Ich schaute hinaus und wurde stutzig: über trockenen Straßen schauten die erblassenden Sterne aus wolkenlosem Himmel. Mich vom Fenster wendend, sah ich im Schein der Lampe ein kleines Kinderbild von mir aus Rées Besitz liegen. Auf dem Papierstück, das drum gefaltet war, stand: 'barmherzig sein, nicht suchen' " [Lebensrückblick, S. 93].