Lou und Friedrich Nietzsche
Friedrich Wilhelm Nietzsche, eine der größten und einflussreichsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, gehört auch zu der Schar der Männer, denen Lou den Kopf verdreht hatte, in diesem Falle aber am gründlichsten und tragischsten. Nietzsche, der Dichter-Philosoph und Autor der sprachgewaltigen Dichtung Zarathustra ("Also sprach Zarathustra"), kam am 15.10.1844 in Röcken bei Lützen in Sachsen zur Welt und starb nach elfjähriger geistiger Umnachtung am 25.8.1900 in Weimar. Einer pietistischen Pfarrerfamilie entstammend, war er ein sehr erfolgreicher Schüler und Student und studierte Altphilologie in Bonn. Bereits vor dem Abschluss seines Studiums hatte er mehrere gute philologische Publikationen vorzuweisen, was nicht alle Tage vorkommt. Dank dieser ungewöhnlichen Leistung verschaffte ihm sein Lehrer eine Professur für griechische Sprache und Literatur an der Universität Basel ab 1869, also als Nietzsche erst 25 Jahre alt war. Gleichermaßen zu früh, schied er jedoch wegen zunehmender Kopfschmerzen und Sehschwäche durch Frühpensionierung bereits nach zehn Jahren (1879) aus dem Amt. Die damalige Diagnose lautete immer wieder "Migräne" oder "schwere Migräne". Aber erst nach seinem Tode sind die Ärzte im zwanzigsten Jahrhundert - dank des medizinischen Fortschritts - zu der Erkenntnis gekommen, dass Nietzsche Opfer einer Syphiliserkrankung gewesen ist, die er sich als junger Student zugezogen haben muss.
Die Beschwerden und Symptome, die Nietzsche gehabt hat, und der Verlauf seiner Krankheit sprechen eindeutig dafür, dass bei ihm - medizinisch gesprochen - eine Progressive Paralyse (wörtlich: 'fortschreitende Lähmung') vorgelegen hat. Diese neurologische Erkrankung ist eine bestimmte Form von fortschreitendem Substanzschwund im Nervensystem, die auch als Folge die Psyche und den Intellekt zerstört. Sie stellt das Spätstadium der Geschlechtskrankheit Syphilis dar, wenn diese nicht oder nicht erfolgreich behandelt wird. Im neunzehnten Jahrhundert verfügte man noch nicht über eine solche Behandlung. Offenbar hat man bei Nietzsche nicht einmal die richtige Diagnose stellen können. So kann man nachträglich nur feststellen, welches Glück Lou gehabt hat, sich seinem vehementen Ehebegehren erfolgreich zu widersetzen. Denn er hätte sie im Eheleben durch seine Geschlechtskrankheit auch ganz sicher infiziert, und sie wäre nicht nur genauso wie er im verblödeten Zustand elendiglich verendet, sondern es hätte dann ja auch Wolfratshausen und Loufried und Rilke und seine wunderbare Dichtung nicht gegeben, einmal von allem anderen abgesehen, was Lou selbst geschaffen hat! Und so kann man ihr also nachträglich auch zurufen: Liebe Frau Lou Andreas-Salomé, das ist das Rätselleben! Eines bestimmten Menschen Bordellbesuch, der ihn selbst vernichtet, verursacht in einem anderen Menschen über ein kompliziertes Geflecht von Ereignissen und Beziehungen das Hervorbringen von Wundern wie: Das Stundenbuch, Duineser Elegien, Die Sonette an Orpheus, Sonette aus dem Portugiesischen (Elizabeth Barrett-Browning) usw. So kann das Leid des einen zu dem Glück der anderen werden.
Den Heiratsantrag erhielt Lou von Nietzsche mindestens zweimal ausdrücklich. Und beide Male widerstand sie seinem Begehren. Die Gründe waren sicherlich nicht sein sächsischer Dialekt oder sein ungewöhnlicher Schnurrbart. Vielmehr war Lou damals noch viel zu jung, als sie 1882 diese Anträge erhielt. Und sie wollte frei bleiben, sie hatte vermutlich eine Ehephobie. Dass sie überhaupt einander begegneten, damit Nietzsche seine Heiratsanträge abgelehnt bekommen konnte, ist einem kleinen oder großen Zufall zu verdanken:
Lou musste wegen ihres Bluthustens (vielleicht Lungentuberkulose?) im Jahre 1881 ihr Studium an der Universität Zürich abbrechen. Die Ärzte empfahlen ihr einen Aufenthalt in einer wärmeren Gegend. Deshalb reiste sie, zusammen mit ihrer Mutter, Anfang 1882 nach Rom. Im Hause der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug lernte sie an einem Märzabend zufällig den jungen Philosophen Paul Rée kennen. Er verliebte sich bald in sie. Sie erwiderte seine Liebe zwar nicht. Freunde - auf mehr oder weniger Distanz - sollten sie jedoch bleiben, schlug sie vor. Nun kannte aber der Philosoph Rée einen noch größeren Philosophen, bei dem er 1873 in Basel Vorlesungen gehört hatte und mit dem ihn eine später entstandene Freundschaft verband: Friedrich Nietzsche. Dieser führte seit seiner Frühpensionierung ein Wanderdasein und hielt sich wegen seiner Beschwerden auch meistens in wärmeren Gegenden, in Italien, auf, weil er sich davon eine Besserung erhoffte. Er lebte abwechselnd in Genua, Sils-Maria, Nizza, Turin oder Rom und zog von einer Pension zur nächsten. Zu dieser Zeit war er in Genua. Er erhielt von seinem Freund Rée einen Brief, datiert vom 21.3.1882, in dem Rée von einer bezaubernden und intelligenten jungen Russin sprach, die Nietzsche sehen sollte. Nietzsche antwortete Rée, dass dieser die junge Russin von ihm grüßen solle. Er, Nietzsche, sei zu einer zweijährigen Ehe wohl bereit. Das war zweifellos eine seltsame Reaktion. Er selbst kam aber nicht.
In der Zwischenzeit erzählt Rée auch Lou viel über Nietzsche und seine Philosophie und weckt bei ihr Interesse für diesen Mann und sein Denken. Nun ist sie selbst auch darauf erpicht, den Abwesenden kennenzulernen, und entwickelt die Idee, dass sie sich ein nettes Jahr in der Gesellschaft interessanter Menschen (wie Rée, Nietzsche, Malwida) vorstellen könne. Aber Nietzsche hat aus unbekannten Gründen (hatte er neue Beschwerden? Hatte er schon wahnhafte Einfälle?) plötzlich Genua wieder verlassen und ist nach Messina auf Sizilien gefahren. Hier erreicht ihn ein zweiter Brief von Rée, der ihn bedrängt, nach Rom zu kommen, da die Russin abreisen wolle. Dieser Brief wirkt.
Am 24.4.1882 kommt Nietzsche in Rom bei Malwida an. Von ihr erfährt er, dass die beiden, Rée und Lou, gerade in der Peterskirche sind. Dort arbeitet Rée seit einiger Zeit, skurrilerweise auf einem Beichtstuhl sitzend, an dem Beweis der Nichtexistenz Gottes. Nietzsche kommt in die Kirche und geht geradewegs auf Lou zu. Was er da sieht, fasziniert ihn auf der Stelle. Er streckt die Hand aus, macht eine Verbeugung und sagt: "Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?" [Lebensrückblick, S. 80]. In der Folge wird aus der Idee Lous, sich mit ein paar Leuten ein nettes Jahr zu machen, der Plan, in einer Art Wohngemeinschaft zu mehreren Personen gemeinsam zu leben, zu denken und zu arbeiten. Nietzsche ist gleich mit größter Begeisterung dabei. Er erklärt sich zum Dritten im Bunde und schlägt eine Heilige Dreieinigkeit vor, die aus Lou, Rée und ihm selbst bestehen soll. Bald übermittelt er Lou durch den Freund Rée einen Heiratsantrag. Dieser wird natürlich höflich abgelehnt. Um den Plan einer Dreieinigkeit nicht zu gefährden, werden ihm für die Ablehnung tiefere Gründe dargelegt. Es seien dies erstens Lous "grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt" [Lebensrückblick, S. 80], und außerdem der Umstand, daß durch ihre Eheschließung die Pension ihres Vaters, von der sie lebt, entfiele.
Ende April wird es in Rom heiß. Lous Mutter will nun diese Hölle endlich verlassen. Sie will über die Schweiz und Deutschland nach Russland zurückzufahren. Anfang Mai 1882 treten Mutter und Tochter die Rückreise an. Die beiden Männer fahren hinter ihnen her. Man trifft sich unterwegs in Mailand. Auf Nietzsches Vorschlag hin schlägt man einen Umweg ein, um einen gemeinsamen Ausflug an einen der schönsten Seen in Oberitalien, den nahegelegenen Orta-See, zu machen. Am 5. Mai sind sie in dem bezaubernden Städtchen Orta. Hier unternehmen Nietzsche und Lou, weil die beiden anderen angeblich müde sind, zusammen einen Spaziergang auf dem Monte sacro. Als sie wider die Verabredung zu spät zurückkehren, wirkt Nietzsche wie außer sich. Es muss sich auf dem Monte sacro zwischen den beiden irgend etwas Ungewöhnliches ereignet haben. Aber was? Man weiß es nicht. Jedenfalls hat es Nietzsches Gemütszustand zutiefst erregt. Man vermutet, dass die beiden einander nahegekommen sein müssen. Denn ab jetzt macht sich Nietzsche wieder Hoffnungen. Rée durchschaut die Situation und ist eifersüchtig. Es werden gegenseitig Vorwürfe ausgetauscht.
Nach dem Verlassen von Italien macht Nietzsche zunächst einen Sprung nach Basel, um sich offenbar mit seinen alten Freunden Overbecks zu beraten, und kommt dort bei ihnen exaltiert an, was auch dafür spricht, dass er sich Hoffnungen macht. Danach kommt die Gruppe wieder in Luzern zusammen. Nietzsche verabredet sich mit Lou am Löwendenkmal im Luzerner Gletschergarten. Er wiederholt jetzt, nach seinem rätselhaften Monte-sacro-Erlebnis nun von Zuversicht erfüllt, seinen Heiratsantrag und bekommt dafür von Lou erneut einen Korb. Lou lässt keinen Zweifel daran, dass es ihr zwar an der Dreieinigkeit liegt, aber für sie eine Ehe jetzt und künftig nicht in Frage kommt. Nietzsche will sie nicht ganz an Rée verlieren und erklärt sich einverstanden. Zur Feier dieses Bundes entsteht dort in Luzern auf seinen Vorschlag auch das berühmte Foto der Dreieinigkeit. Er fährt dann über Basel zu seiner Familie in Thüringen. Rée begleitet die beiden Damen nach Zürich. Von dort aus reist er allein nach Hause zu seiner Familie auf dem Rittergut Stibbe bei Tütz in Westpreußen. Die beiden Damen, Mutter und Tochter, halten sich noch ein paar Wochen in Zürich auf und fahren danach zu den Verwandten der Mutter nach Hamburg. Diese kann den Widerstand von Lou, mit ihr nach Hause zurückzukehren, nicht brechen, weil sie lieber zu Paul Rée fahren möchte. Die Mutter ruft ihren Sohn Eugène aus St. Petersburg zu Hilfe. Schließlich einigt man sich darauf, dass er Lou zu Rées Familiengut nach Stibbe begleitet, wohin Rée sie eingeladen hat, und sie dort der Mutter von Rée anvertraut. Sie bleibt dort gut einen Monat lang bis einige Tage vor dem Beginn der Bayreuther Festspiele am 26.7.1882, wo sie mit Malwida von Meysenbug verabredet ist und durch sie bei dieser Gelegenheit Richard Wagner kennenlernt. Von hier aus folgt sie Nietzsches Einladung und fährt nach Tautenburg in Thüringen zwecks eines Besuchs bei ihm, der vom 7.8. bis zum 26.8.1882 dauert. Nun hat sie die Gelegenheit, Nietzsche und seine Werke, die sie außer der Fröhlichen Wissenschaft noch gar nicht kennt, näher kennenzulernen. Sie führen ausgedehnte Gespräche über "Gott und die Welt" miteinander. Bei dieser Gelegenheit gibt Lou ihm auch ihr Gedicht Lebensgebet, das ihn fasziniert. Später vertont er es als Hymnus an das Leben. Lou spürt bald schon sehr genau und treffend heraus, dass Nietzsche nicht ein systematischer Philosoph ist, sondern die aphoristische Arbeitsweise bevorzugt und im Grunde eine religiöse Natur, ein von der Religion herkommender Gottsucher ist, der auf Religionsprophetie zugeht [Lebensrückblick, S. 83-84].
Innerhalb der Dreieinigkeit hat sich Lou menschlich auf Rée festgelegt. Es stört sie deshalb, dass Nietzsche in den Gesprächen immer wieder Bemerkungen macht, die ihn, seinen eigenen Freund, herabsetzen sollen. Im Oktober 1882 treffen sich die drei noch einmal in Leipzig. Aber es stellt sich später heraus, dass es das letzte Mal war. "Wenn ich mich frage, was meine innere Einstellung zu Nietzsche am ehesten zu beeinträchtigen begann, so war das die zunehmende Häufung solcher Andeutungen von ihm, die Paul Rée bei mir schlecht machen sollten - und auch das Erstaunen, daß er diese Methode für wirksam halten konnte" [Lebensrückblick, S. 85]. Aus der Dreieinigkeit wird eine Zweieinigkeit. Lou wohnt ab Ende des Jahres 1882 in Berlin mit Paul Rée zusammen.