Inhalte der Werke
Lebensrückblick: Zürich, 1951
Lebensrückblick ist ein höchst interessantes und, wegen seiner verschrobenen Sprache, etwas seltsames Buch mit 216 Seiten Text und circa 100 Seiten umfassenden, sehr informativen Anmerkungen und Kommentaren des Herausgebers Ernst Pfeiffer - und dessen Nachwort. Es manifestiert den unvollendeten Versuch Lous, eine Autobiographie von sich zu hinterlassen. Ernst Pfeiffer hat es aus Lous literarischem Nachlaß 1951 herausgegeben, den sie drei Jahre vor ihrem Tod, 1934, komplett ihm vermacht hatte. Trotz der vielen Auskünfte und Details, die man aus erster Hand erhält, verschweigt das Buch aber auch manche wichtigen Begebenheiten im Leben der Autorin. Wie es aus dem Nachwort des mit ihr in ihrem letzten Lebensabschnitt befreundeten Herausgebers Ernst Pfeiffer hervorgeht, ist dieses Verschweigen sogar Lous Absicht gewesen und keineswegs ein bloßes Vergessen. Dazu gehört beispielsweise ihre über zehn Jahre lange Liebesbeziehung zu dem Wiener Arzt Friedrich Pineles, von dem sie sogar ein Kind empfangen hat, das durch eine Fehlgeburt abgegangen ist. Sie erwähnt nicht einmal seinen Namen.
Die Darstellung ist nicht chronologisch, sondern themenzentriert, die Lou "Erlebnisse" beziehungsweise "Erleben" nennt. Sie beschreibt jeweils in ihren größeren Zusammenhängen zunächst sieben solche Erlebnisse, die ihr Leben bestimmt haben: Das Erlebnis Gott, das Liebeserleben Hendrik Gillot in ihrer frühen Jugend oder gar Pubertät, die Familie, das Erlebnis Russland, Freundeserleben Paul Rée, unter Menschen, und mit Rainer. Später hat sie in einem Nachtrag noch einige Kapitel hinzugefügt, die aber insgesamt nur zwei oder vielleicht drei neue Themen streifen.
Da ist zunächst einmal das melancholische, innere Gespräch "April, unser Monat, Rainer - ", das die 73-Jährige im Jahre 1934 acht Jahre nach Rilkes Tod mit ihm führt und in dem sie ihre anrührende, gemeinsame Liebe ihm aus ihrer jetzigen Perspektive in die Erinnerung nachschickt und ihm für das Großartige dankt: "War ich Jahre lang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist, Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelbarer Tatbestand des Lebens selbst. Wortwörtlich hätte ich Dir bekennen können, was Du gesagt hast als Dein Liebesbekenntnis: ´Du allein bist wirklich´. Darin wurden wir Gatten, noch ehe wir Freunde geworden, und befreundet wurden wir kaum aus Wahl, sondern aus ebenso untergründig vollzogenen Vermählungen. Nicht zwei Hälften suchten wir in uns: die überraschte Ganzheit erkannte sich erschauernd an unfaßlicher Ganzheit. So waren wir denn Geschwister - doch wie aus Vorzeiten, bevor Inzest zum Sakrileg geworden" (S. 138). Die gereifte Frau schlägt hier offenbar einen anderen Ton an, als sie es 33 Jahre zuvor aus ihrer wahnhaft verschobenen Perspektive in ihrem Letzten Zuruf getan und dadurch Rilke untröstlich verletzt hatte, weil sie für ihn in der Liebe die Mutterrolle gespielt haben wollte.
Ein weiteres Thema ist das Erlebnis Freud, das ihre spät entstandene Beziehung zur Psychoanalyse und ihrem Meister in der Retrospektive beschreibt. Interessanter, weil zugleich erschütternd, ist die Darstellung ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann in einem nichtssagenden Kapitel "F.C. Andreas" von nur 13 Seiten. Sie hat mit ihm bis zu seinem Tod eine 43 Jahre lange Ehe geführt, jedoch, wie aus ihrer Darstellung hervorgeht, sie hat ihn nicht verstanden. Allerdings kann man auch versuchen, dies in einem günstigeren Licht zu sehen in dem Sinne, daß ihr Mann und ihre Ehe für sie ein, nein zwei Rätsel bleiben: "Kam das mich Überwältigende jenes seines Ausdrucks damals [- als sie ihn widerwillig und dennoch heiratete -] daher, daß es aus einer letzten Wahrheit kam? Ich weiß es nicht. Vergib, vergib: ich weiß es nicht" (S. 216).