Lou am Ende ihres Lebens
Seit ihrem Wiedersehen mit Rilke in München im Frühjahr 1919 denkt Lou wieder öfter an ihn und beschäftigt sich mit seinem Werk. Rilke stirbt Ende 1926 in der Schweiz an Leukämie. Der innere Abschied von ihm, den sie jetzt nehmen muss, besteht in ihrer verstärkten Beschäftigung mit ihm in der Erinnerung - sie liest noch einmal auch alle Briefe durch, die sie seit ihrem allerersten Treffen am 13.5.1897 einander geschrieben haben. Das Ergebnis dieser Verarbeitung des Todes des einstigen Geliebten der jetzt 67-Jährigen ist ihr Buch Rainer Maria Rilke (1928).
Hatten Lou und ihr Mann wegen ihrer seltsamen Ehe von Anfang an innerlich aneinander vorbeigelebt, gewinnen sie in ihren alten Tagen doch ein wenig Nähe zueinander. Das mag die Frucht der Reife und der schweren Zeit im Ersten Weltkrieg und danach gewesen sein. Jedenfalls erwähnt Lou jetzt in ihren Briefen ihren Mann häufiger. Zwecks einer orthopädischen Operation am Fußgelenk kommt Lou im Frühjahr 1930 sechs Wochen lang ins Krankenhaus. In dieser Zeit kümmert sich ihr Mann, wie immer, rührend um sie. Diesmal merkt sie es aber endlich und beginnt, immer öfter über ihn und ihre Ehe nachzudenken. Sie stellen jetzt, leider zu spät und nur wenige Monate vor seinem Tode, fest, "wieviel sie einander zu sagen haben". Dabei haben sie sich seit 43 Jahren nur angeschwiegen.
Während ihres Krankenhausaufenthalts und durch die Besuche ihres Mannes macht sie neue Erfahrungen und ist selbst erstaunt und beglückt, dass sie sich jedes Mal über seine Besuche freut und sie beide versuchen, die Zeit zu strecken, um länger zusammen zu sein. "Uns so gegenüberzusitzen, war uns ganz neu: wir, die wir die üblichen Familienabende 'beim trauten Schein der Lampe' gar nicht kannten, die wir auch auf Spaziergängen am liebsten ungestört rannten, erfuhren damit eine Situation ungewohntester Art, die uns vollkommen hinriß. Es galt, die Minuten zu täuschen, die Zeit zu strecken wie einst im Kriege das tägliche Brot, von dem man leben wollte. Wiedersehen um Wiedersehen begab sich wie zwischen nach langem und weitem heimgekehrten Menschen; und der Vergleich kam uns selber und breitete eine feine Heiterkeit über den Reichtum dieser Stunden. Als ich endlich aufstand und nach Hause zurückkehrte, ließen sich die ´Spitalstunden´ es sich nicht mehr nehmen, verstohlen mitzutun, und nicht nur zwischen Drei und Vier" [Lebensrückblick, S. 207].
Leider aber währte dieses spät entdeckte Glück nicht lange. Denn ihr Mann starb im Oktober des Jahres. Seit Rilkes Tod Ende 1926 führte Lou mit ihm innere Gespräche. Nun führt sie solche Gespräche auch mit ihrem Mann - er liegt ja im Grab. (Übrigens soll ihre Haushälterin Mariechen Apel erzählt haben, dass Lou, solange sie noch lebte, das Grab ihres Mannes kein einziges Mal besucht habe. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie nicht wusste, dass es eines Tages ebenfalls ihre eigene Ruhestätte sein würde.) Im Zusammenhang mit diesen inneren Gesprächen, die sich zu einem Rückblick auf ihr ganzes Leben auswachsen, entschließt sie sich dazu, ihre Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Sie erscheinen auch in der Tat posthum unter dem Titel Lebensrückblick. In diesem Lebensrückblick findet man auch ihre Gedanken über ihren Mann. Ein dritter Mann (außer Rilke und ihrem Ehemann), mit dem Lou innere Dauergespräche führt, ist Sigmund Freud. Ihre Frucht veröffentlicht sie im Jahre 1931 als Mein Dank an Freud. Dieses Buch findet nicht nur bei Freud selbst, sondern auch in psychoanalytischen Fachkreisen eine besondere Beachtung.
Lou litt seit Jahren schon an einer Zuckerkrankheit und ihren Folgen. Ab dem Frühjahr 1935 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zunehmend. Sie musste sich im Herbst einer Krebsoperation unterziehen. Zwar erholte sie sich davon, aber es ging mit ihr "bergab". Zum Glück ist Mariechen noch bei ihr und pflegt sie und macht den Haushalt.
Im Jahre 1931 hatte Lou mehr oder weniger durch einen Zufall einen Mann namens Ernst Pfeiffer (1893-1986) kennengelernt, der bei sich durch sie eine Lehranalyse durchführen lassen wollte. Sie hatten sich dann eine Weile aus den Augen verloren. Aber ab 1933 konnte sich aus der flüchtigen Bekanntschaft eine langjährige Freundschaft entwickeln, weil Lou Pfeiffer faszinierte und er sich zunehmend für ihr Leben und ihr Werk interessierte. Sie übertrug ihm sogar 1934 alle Rechte für ihren literarischen Nachlass. Er kümmerte sich rührend um sie und hat posthum durch eine immense Arbeit ihren gesamten Nachlass - mit vielen informativen Anmerkungen und Kommentaren versehen - herausgegeben. Pfeiffer besuchte sie oft und las ihr, da sie selbst wegen ihrer Fastblindheit nicht mehr lesen konnte, die noch in der Arbeit befindlichen Manuskripte, insbesondere aus dem Lebensrückblick, vor. Aber sie entfernte sich immer mehr von dieser Welt. Nur wenige Tage vor ihrem 76. Geburtstag schlief sie am 5.2.1937 schmerzlos für immer ein. Dieser ewige Schlaf hatte schon seit einigen Tagen als ein Dämmerzustand begonnen, offenbar als Koma durch Urämie (= Anhäufung von giftigen, harnpflichtigen Substanzen im Blut wie zum Beispiel Harnstoff, Harnsäure usw.) infolge eines Nierenversagens durch Zuckerkrankheit. Sie wurde eingeäschert. Die Göttinger Behörden genehmigten jedoch nicht den letzten Wunsch der Verstorbenen, ihre Urne im Garten von Loufried zu bestatten. So wurde sie in dem bereits bestehenden Grab ihres Mannes im Stadtfriedhof von Göttingen beigesetzt. Also auch nach ihrem Tode hat Lou ihrem Mann nicht entkommen können.