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Lou

Leben

Lous Leben in Göttingen

Im Frühjahr 1903 hält Lous Ehemann Friedrich Carl Andreas (→ Ehemann) in Göttingen nach einem Wohnsitz Ausschau, weil die Familie bald nach Göttingen umziehen will. Denn er ist als Professor für Westasiatische Sprachen an die hiesige Universität berufen worden. Er findet auch in der Tat ein passendes Haus draußen vor der Stadt am Hang des Hainbergs. Lou besichtigt es im Juni. Sie ist von der reizvollen Aussicht fasziniert und weiß sofort, daß dieses Haus, das einen großen Garten mit Obstbäumen hat und einen herrlichen Blick auf das zu Füßen des Hainbergs liegende Städtchen bietet, endlich ihr Zuhause sein wird, vielleicht auch ihr letztes. Nach Überwindung einiger Schwierigkeiten erwirbt das Ehepaar das Haus. Lou gibt ihm den Namen Loufried, wie einst im Sommer 1897 dem kleinen Bauernhaus in Wolfratshausen, in dem sie und Rilke (→ Rilke) wunderbare Tage ihrer Liebe verlebt hatten. Zu dieser Namensgebung hat vielleicht auch beigetragen der Umstand, daß nach seinem langen Schweigen seit seinem Fortgang im Februar 1901 genau um diese Zeit sich Rilke bei ihr wieder meldet, indem er auf ihr Angebot zurückkommt,  "Wenn einmal viel später Dir schlecht ist zu Muthe, dann ist bei uns ein Heim für die schlechteste Stunde", das sie ihm damals gemacht hat.

Am 1. Oktober 1903 beginnt der Umzug der Familie - mit ihrer Haushälterin Marie - von Berlin nach Göttingen. Lou lebt im oberen Stockwerk, ihr Mann bewohnt die unteren Räume. Er hält auch dort in seinem Arbeitszimmer sein Kolleg, nicht in den Räumen der Universität. Da er mit Vorliebe erst abends damit beginnt und viel mit seinen Studenten diskutiert, werden seine Nächte sehr lang. Lou dagegen geht früh schlafen und steht früh auf. So können sie sich aus dem Wege gehen und Konflikte vermeiden. Lou ist ohnehin ständig auf Reisen und läßt ihren Mann Wochen und Monate allein. So kommt es, daß sie auch keinen Kontakt zu der Göttinger Bevölkerung entwickeln kann, ihn auch gar nicht sucht. In der ersten Zeit trifft sie oft ihren Wiener Liebhaber Friedrich Pineles (→ Friedrich Pineles) und verreist mit ihm, bis sie 1909 auch diese Beziehung aufkündigt. Schriftstellerisch ist sie außer sporadischen Bemerkungen und Rezensionen zur Zeit erstaunlich unproduktiv. Sie verarbeitet offenbar ihr Liebeserlebnis mit Rilke und unterzieht ihr Liebesleben überhaupt einer Prüfung, denn sie beschäftigt sich ab 1906 intensiv mit dieser Thematik und legt ihre Gedanken dazu in ihrem Essay Die Erotik nieder (1910). Diese Arbeit scheint auch eine neue Wendung in ihrem Leben anzukündigen, denn bald schon begegnet sie dem schwedischen Arzt Poul Bjerre (→ Poul Bjerre), durch den sie im Jahre 1911 den Weg zur Psychoanalyse (→ Psychoanalyse) findet. Nach dem Aneignen dieser Kunst eröffnet sie 1915 in Göttingen eine psychoanalytische Praxis und wird als Psychotherapeutin tätig. Inzwischen findet der Erste Weltkrieg statt. Lou leidet sehr darunter und unter den Folgen, die er für das tägliche Leben mit sich bringt. Am Ende des Krieges ist sie erschöpft. Sie ist auch, wie die meisten Landsleute, in finanziellen Nöten, die sich leider eine ganze Weile noch hinziehen werden. Die Mark ist nichts mehr wert. Loufried verfällt immer mehr, ohne daß er/sie/es renoviert werden könnte. Lou erhält ab und zu von Sigmund Freud Geld in harter Dollarwährung. Innere Kraft schöpft sie aus der Korrespondenz mit Rilke, die sie noch einmal und immer wieder und intensiv zum Reflektieren, Nacherleben und Nachverarbeiten dessen veranlaßt, was zwischen ihnen 1897-1901 gewesen ist, zumal sie, wohl wegen ihres Alters, keine äußeren Liebesbeziehungen mehr zu unterhalten scheint. Seiner Bitte und Einladung, einander wiederzusehen, kann sie nicht widerstehen. Sie treffen sich im April und Mai 1919 in München, dem Ursprungsort ihrer Liebe. Lou ist 58, er 43 Jahre alt. Sie verleben miteinander noch einmal eine reiche Zeit, beschäftigen sich mit ihrer Vergangenheit und auch mit dem gegenwärtigen Schaffen Rilkes, der an seinen Duineser Elegien arbeitet. Sie versteht jetzt seine Dichtung und sein Empfinden mehr und besser als damals während der zweiten Russlandreise (→ zweiten Russlandreise) im Jahre 1900, nach der sie ihn dann im Februar 1901 kaltblütig und grausam fortgejagt hatte. Sie trennen sich wieder. Lou ahnt, daß sie einander nie mehr wiedersehen werden, und wird bald in einem Brief vom 6.6.1919 an ihn gestehen, "Du schenktest mir ein Stück Leben und ich brauchte es noch inbrünstiger als Du weißt ... Lieber Rainer, - nun ist es aus, und ich seh Dich nie mehr ..." [Briefwechsel mit RMR, S. 425]. Die neu entfachten Erinnerungen an ihre alte Liebe werden sie jedoch begleiten bis an ihr Lebensende.