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Lou

Liebschaften

 

Liebeleien

Lou und Friedrich Pineles ("Zemek")

Zum ersten Male in Lous Tagebuch taucht am 22.12.1895 der Name dieses Mannes auf, noch falsch geschrieben, weil Lou sich nicht für ihn, sondern für seine Schwester Broncia interessiert, die eine begabte Malerin ist. Lou hält sich um diese Zeit - von Oktober 1895 bis Mitte Februar 1896 - in Wien auf. Eines Tages ist sie zu Gast bei der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder, die Lou zu sich eingeladen hat. Im Hause Mayreders macht Lou die Bekanntschaft von Broncia, die von ihrem Bruder Friedrich begleitet wird. Die beiden Geschwister und Lou finden sich spontan sympathisch. Friedrich PinelesDr. Friedrich Pineles (1868-1936) ist ein Arzt am Allgemeinen Krankenhaus in Wien ("Wiener Universitätskliniken") und sieben Jahre jünger als Lou. Ähnlich Paul Rée, ist auch er jüdischer Herkunft und entstammt einer angesehenen, jüdischen Familie, die aus Galizien nach Österreich eingewandert war. Er wird in der Familie und von seinen Freunden "Zemek" genannt. Dieser Spitzname geht auf seine polnische Amme zurück und bedeutet "Erdmannn". Zu Weihnachten und Silvester treffen sich Zemek und Lou mehrere Male, wo er sie hierhin oder dorthin begleitet. Durch seine äußere Erscheinung, durch seine umfassende Bildung, seinen Intellekt und seine philosophisch-literarischen Interessen scheint er Lou allmählich fasziniert zu haben.

Aber Zemek muss auch eine andere Eigenschaft gehabt haben, weshalb Lou im Mai 1896 noch einmal von Berlin nach Wien zurückkam. Diesmal lernte sie auch die Familie von Pineles kennen. Das künstlerisch-literarische Wien scheint sie diesmal kaum interessiert zu haben. Es ist die Eigenschaft oder gar die Fähigkeit Zemeks, die Lou zu verstehen gegeben hat, dass sie ihn als Frau anzieht und ihr Geist ihn nicht beeindruckt. Sie unternahm mit Zemek eine Rucksacktour zu den Seen im Salzkammergut, die erste ihrer gemeinsamen Wanderungen, die sie später sogar bis nach Venedig führen sollten. Vermutlich hat sie die Liebe bei dieser Gelegenheit ereilt. Es wird angenommen, dass Zemek es gewesen sei, der ihrer Askese ein Ende gemacht habe - wenn es nicht ihr Landsmann K. Ssawélij war.

Zemeks Heiratsantrag lehnte sie jedoch ab, weil seine Annahme ihre Scheidung von ihrem Mann voraussetzte, sie jedoch davon nichts wissen wollte. Aber es wird erzählt, dass anlässlich der Hochzeit von Zemeks Schwester Broncia, die einen Industriellen namens Dr. Hugo Koller heiratete, eine Doppelhochzeit stattgefunden habe in der Weise, dass Zemek und Lou - zumindest symbolisch - sich vermählt hätten und er ihr inoffizieller Gatte geworden sei. Die Familie Pineles jedenfalls betrachtete sie zwölf Jahre lang als Zemeks Frau. Immer wieder kam sie nach Wien und ließ sich von ihm verwöhnen. Aber trotz seines Drängens kam für Lou eine offizielle Ehe mit ihm nicht in Frage. Dies nicht nur deshalb, weil ihr Mann niemals in die Scheidung einwilligen würde, sondern auch wegen Lous Zweifel, dass sie ihm treu bleiben könnte. Diese Zweifel waren durchaus berechtigt. Denn noch während ihrer Liebesbeziehung zu Zemek folgte im Mai 1897 ihre nächste, größere, größte Liebe, Rainer Maria Rilke.

Aber von ihm trennte sie sich ja wieder im Februar 1901. In Ihrem Abschiedbrief an ihn, Letzter Zuruf, hatte sie ihm geschrieben: "Ich gehorchte ohne es zu wissen dem großen Plan des Lebens, das ein Geschenk über alles Verstehen und Erwarten lächelnd schon bereit hielt für mich". Gemeint war ihre Beziehung zu Zemek. Zwei Monate nach ihrer Trennung von Rilke trifft sie ihn im Frühjahr 1901 in Nürnberg wieder. Die alte Beziehung erwacht nun wieder voll und geht in eine rauschhafte Phase extremer Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit über. Erstaunlicherweise spielt die Frage nach einer seelisch-geistigen Harmonie zwischen den Liebenden gar keine Rolle mehr. Sie machen gemeinsame Reisen, jetzt, und viele andere im Verlaufe der nächsten zehn Jahre ihrer Zweisamkeit. Lou ist im Herbst des Jahres wieder bei ihm in Wien und auf dem Familiensitz der Pineles in Oberwaltersdorf. Sie wird - zum ersten und letzten Male in ihrem Leben - schwanger. Das ist eine neue Dimension der Weiblichkeit, die die frühere Asketin erfahren kann und ihrem Ehemann Friedrich Carl Andreas vorenthält. Aber es wird ihr nach langem Nachdenken klar, dass sie das Kind nicht wünscht, es nicht haben will. Beim Apfelpflücken stürzt sie - aus Versehen - von der Leiter und verliert das Kind.

Immer wieder trifft sie Zemek und geht mit ihm auf Reisen. Das Verhältnis hält bis zum Jahre 1909. Es ist nicht klar, durch wessen Initiative die Trennung endgültig erfolgt, wahrscheinlich durch Lous - wie immer. Jedenfalls bleibt danach Zemek unverheiratet, macht Karriere an der Universität Wien und stirbt hier 1936.

In ihrem Lebensrückblick erwähnt Lou weder diesen Lebensabschnitt mit Zemek noch ihn selbst mit einem einzigen Wort. Auch aus ihren anderen Aufzeichnungen sind die Bezugnahmen darauf vernichtet worden. Es wird angenommen, dass dies nicht - oder jedenfalls nicht allein - aus Gründen der Geheimhaltung geschehen sei, sondern weil sie diese Beziehung wegen ihrer ausschließlichen Körperlichkeit später im Alter verurteilt habe. Ihr Nachdenken über diese Problematik und ihre innere Verarbeitung der Beziehung zu Zemek haben die Grundlage abgegeben für ihren wichtigen Essay Die Erotik (1910), noch bevor sie die Psychoanalyse und Sigmund Freud kennenlernte. Während der Niederschrift dieses Essays, die vier Jahre gedauert hat, wurde es Lou klar, dass ihre einseitig sexuelle Beziehung zu Friedrich Pineles fragwürdig ist und beendet werden muss.