Lou und Rainer Maria Rilke
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Unter Lous Liebesbeziehungen zeichnet sich ihre hier skizzierte Beziehung zu dem Dichter Rilke durch einige Besonderheiten aus. René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde am 4.12.1875 in Prag geboren und starb am 29.12.1926 in der Schweiz. Sein Vater Josef Rilke (1838-1906) war nach einer gescheiterten Militärlaufbahn Beamter in einer Prager Eisenbahngesellschaft. Die Mutter Sophie (1851-1931) war Tochter eines Kaufmanns und Kaiserlichen Rats. Sie ließ sich 1885 scheiden, weil sie sich unter ihrem Stande verheiratet fühlte. Dadurch wurde auch ihr Verhältnis zu ihrem Sohn gestört. Seltsamerweise hatte sie ihn bis zu seiner Einschulung als Mädchen großgezogen - mit Puppen, Kleidchen und langen Zöpfen. Seine ersten vier Schuljahre verbrachte er auf einer katholischen Klosterschule in Prag. Er war zwar ein guter Schüler, aber er musste eine Offizierslaufbahn einschlagen, weil für die Familie ein Gymnasium zu teuer war. Er kam auf eine Militärschule in Österreich. Auch hier glänzte er in den theoretischen Fächern. Dennoch brach er nach dem Wechsel auf die Militär-Oberrealschule im Jahre 1890 die Ausbildung ab. Der sensible Junge war den körperlichen Anforderungen und dem rauen Umgang der Mitschüler nicht gewachsen. Sie hatten ihn erschöpft. Nach der Erholung besuchte er ab Herbst 1891 die Handelsschule in Linz.
In dieser Zeit veröffentlichte er sein erstes Gedicht in einer Zeitung. In der Folge fixierte er sich immer mehr auf die Literatur. So brach er auch die Schule nach einem Jahr endgültig ab. Im Jahre 1892 kehrte der siebzehjährige Knabe nach Prag zurück. Dort erhielt er von einem Onkel finanzielle Unterstützung und konnte sich das nötige Wissen durch Privatstudien aneignen und im Jahre 1895 die Reifeprüfung mit Auszeichnung bestehen. Anschließend begann er an der Universität Prag mit dem Studium der Geschichte, Kunst und Literatur. Ein Jahr später, im Herbst 1896, ging er nach München, um dort Philosophie zu studieren, beschäftigte sich jedoch in Wirklichkeit mit der Literatur und seiner Schriftstellerei. Ein halbes Jahr danach, im Frühjahr 1897, begegnete er hier Lou. Um diese Zeit schon - mit 21 Jahren - war er als "Dichter" kein unbeschriebenes Blatt. Dank seiner literarischen Betriebsamkeit hatte er sich durch zahlreiche triviale bis oberflächliche Gedichte ("Darauflosreimen") und Erzählungen einen Namen gemacht. Das sollte bald durch die Erfahrung der Liebe anders werden.
Vorgeschichte. Im April 1896 war in der Zeitschrift Neue Deutsche Rundschau (Band 7, S. 342-351) ein religionsphilosophischer Artikel erschienen des Titels Jesus der Jude. Die Hauptaussage des Artikels besagte, dass Jesus einen furchtbaren Tod gestorben sein müsse, denn er war jemand, der als ein Jude davon überzeugt war, dass die mosaischen Verheißungen sich im irdischen Leben erfüllen würden. Wenn er aber so grausam an das Kreuz genagelt wird, dann haben sie sich offenbar nicht erfüllt. Deshalb müsse er, als er starb, nur eben der erste jener jüdischen Märtyrer gewesen sein, "die in einem entsetzlichen Zweifel, mit starr und hülflos zum unerbittlichen Himmel gerichteten Augen, gestorben sein mögen" (S. 349). Drei weitere, zentrale Aussagen in diesem Artikel sind erstens die Idee, dass Gott eine Schöpfung des Menschen sei; zweitens der Gedanke, dass dieses eigene Geschöpf des Menschen auf ihn zurückwirke; und drittens die Betrachtung von Jesus als ein religiöses Genie. (Die erste dieser drei Ideen stammt von Ludwig Feuerbach, die zweite von Paul Rée und die dritte von Friedrich Nietzsche.) Der Artikel entstammte der Feder einer Frau, die hieß: Lou Andreas-Salomé. Ein junger Mann hatte den Artikel gelesen und war davon tief berührt, weil er meinte, dass darin die Autorin überzeugend gesagt habe, was er selbst in seinen Christus-Visionen habe ausdrücken wollen, Gedichten von ihm, die nie zur Veröffentlichung gelangten. Die ihm persönlich unbekannte Autorin hatte ihn bereits zuvor durch ihren Roman Ruth begeistert. Dieser junge Mann hieß damals noch René Maria Rilke. Aber sehr bald schon sollte er dieser Autorin zuliebe Rainer statt René heißen.
München. Es war Ende April 1897. Lou reiste von Berlin nach München, um hier ihre gute Freundin Frieda von Bülow zu treffen und einem Vortrag von ihr über Afrika beizuwohnen. Sie war mit ihr in den sogenannten Fürstenhäusern in der Schellingstraße in München-Schwabing abgestiegen (diese wurden im Krieg zerstört. An ihrer Stelle stehen heute die Neubauten Schellingstraße 83-98.) Bei dieser Gelegenheit traf sie viele andere Freunde und Bekannten, unter ihnen auch Frank Wedekind. Durch diesen lernte Lou den jungen Schriftsteller Jakob Wassermann kennen. Zwischenzeitlich bekam sie, offenbar von einem Verehrer, wiederholt anonyme Briefe mit beigefügten Gedichten, die sie nicht weiter beachtete, weil sie sie nicht sonderlich beeindrucken konnten. Am 12.5.1897 stellte ihr in seiner Wohnung der neue Freund Jakob Wassermann einen schlanken, 21 Jahre jungen Mann von zarter Erscheinung vor, dem seine Sensibilität und Aufgeregtheit ins Gesicht geschrieben standen, René Maria Rilke. Zwar hatte der junge Rilke die von ihm unbekannterweise verehrte Autorin nur aufgesucht, um durch sie Kontakte zu knüpfen und als Literat protegiert zu werden. Aber von Anfang an zog ihn die 36-jährige Lou, die fast seine Mutter sein könnte, in ihren Bann. Am nächsten Tag schrieb er ihr einen Brief: "Gnädigste Frau, - es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte ...". Denn der gestrige Nachmittag sei ja nur ein gesellschaftlicher Anlass gewesen, fuhr er in dem Brief fort, und konnte somit nicht so ablaufen wie jener frühere, intime, an dem er ihren Essay Jesus der Jude gelesen habe. "In jener Dämmerstunde war ich mit Ihnen allein". Für ihn sei ihr Essay eine Offenbarung gewesen, denn sie habe "mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft klar ausgesprochen", was er selbst in seinem Gedichtzyklus Christus-Visionen habe ausdrücken wollen (diese Gedichte sind nie veröffentlicht worden, aber einige von ihnen sollen sich noch im Rilke-Archiv befinden). Es sei ihm gewesen wie einem, dem große Träume in Erfüllung gingen. In Gegenwart anderer habe er ihr dafür nicht danken können, denn "Mir ist immer: wenn ein Mensch einem anderen für etwas sehr Teures zu danken hat, soll dieser Dank ein Geheimnis bleiben zwischen den Beiden". Er würde sich freuen, ihr einige der genannten Gedichte vorlesen zu dürfen und hoffe, dass er sie am nächsten Abend im Theater wiedersähe.
Lou erkannte zwar anhand der Handschrift sofort den Absender der anonymen Briefe und Gedichte, die sie in der letzten Zeit erhalten hatte. Aber diese erste Begegnung mit dem jungen Dichter hat sie immer noch nicht weiter beeindruckt. Denn sie erinnerte sich später in ihrem Lebensrückblick nur an die zweite Begegnung mit ihm, wobei auch jetzt dieser Verehrer nur einer unter anderen Menschen ist. Der hartnäckige Verliebte steigerte jedoch sein Werben immer mehr. Hatte Lou ihn im Theater verpasst oder nicht beachtet? Er lief in ganz München umher, um sie zu suchen: "Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und dem Anfang des Englischen Gartens herumgelaufen, um Ihnen die Rosen zu schenken". Drei Tage später suchte er sie auf und las ihr in der Tat einige von seinen Christus-Visionen vor. Schon bald darauf widmete er ihr ein Gedicht. Auch alle nachfolgenden Liebesgedichte bis zum Bruch im Herbst 1900 galten immer ihr. Rilke liebte und verehrte sie wie eine Göttin und eine mütterliche Geliebte. Um den 7. Juni 1897 herum änderte sich ihre Sprache. Sie redeten sich schon mit Du an. Wahrscheinlich hatte Lou Rilkes Liebe bereits erwidert.
Wolfratshausen. Ende Mai unternahmen die drei (Lou, Rilke, Frieda von Bülow) einen Ausflug nach Wolfratshausen im Isartal bei München und fanden Gefallen an diesem schönen Dorf. So entschlossen sie sich dazu, in wenigen Tagen hier eine längere Zeit gemeinsam zu verbringen. Das geschah am 14. Juni 1897. Sie bezogen dort ihr Sommerquartier. Es war zunächst in einem kleinen Häuschen an einem Berghang, zeitweise in Gesellschaft einiger Freunde, zum Beispiel des gemeinsamen Freundes August Endell, eines Architekten. Auch ein russischer Schriftsteller, Akim Volinskij, den Lou kannte, kam für kurze Zeit vorbei. Nach einer kurzen Unterbrechung im Juli war das Liebespaar wieder dort und bewohnte ab 20. Juli ein an den Berg gebautes Bauernhaus, das Lou Loufried taufte. Über dem Haus wehte eine von Endell angefertigte Fahne mit diesem Namen. Es war hier eine sehr glückliche Zeit für das Liebespaar. In dieser Zeit verlieh Rilke seiner Anbetung der Geliebten Ausdruck in einem an "Gott" gerichteten, berühmten Gedicht, das in seinem späteren Stundenbuch, speziell in der Abteilung Das Buch von der Pilgerschaft, auftauchte:
Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören,
und ohne Füße kann ich zu Dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse Dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst Du in mein Hirn den Brand,
so werd ich Dich auf meinem Blute tragen.
Aber ein großer Teil der Gedichte aus dieser Zeit wurde von den beiden absichtlich vernichtet. Eines der wenigen, die übriggeblieben sind, bewahrte Lou bis zuletzt auf, "sogar im vergilbten Wolfratshauser Umschlag" [Lebensrückblick, S. 141], das sie an ihr erstes Liebeserlebnis mit Rilke (in einer Juninacht ?) erinnerte:
Dann brachte mir Dein Brief den sanften Segen,
Ich wußte, daß es keine Ferne gibt:
Aus allem Schönen gehst Du mir entgegen,
Mein Frühlingswind Du, Du mein Sommerregen,
Du meine Juninacht mit tausend Wegen,
Auf denen kein Geweihter schritt vor mir:
Ich bin in Dir.
Auch Lous Ehemann, Friedrich Carl Andreas, kam am 23.7.1897 vorbei und verbrachte einen ganzen Monat im Loufried. Seine Ankunft hatte er per Telegramm angekündigt, so dass Rilke sich etwas zurückziehen und beherrschen konnte, damit der Ehemann nichts merke. Ende August verließ man Wolfratshausen. Am 1. Oktober ging Lou zurück nach Berlin - zusammen mit Rilke, der sich von allem spontan, von Lou aber nicht mehr trennen konnte.
Berlin. Unweit der Schmargendorfer Wohnung von Lou und ihrem Mann fand Rilke ein möbliertes Zimmer in Berlin-Wilmersdorf. Ein Jahr später ließ er sich sogar noch näher in der Villa Waldfrieden in Schmargendorf nieder. So konnte er Lou täglich besuchen und den ganzen Tag mit ihr verbringen. Ihre Wohnung war klein und eng. Der einzige Wohnraum diente Ihrem Mann als Arbeitszimmer und Bibliothek. Lou benutzte die Küche als Wohn- und Arbeitsraum für sich. Hier hielt sich auch die ganze Zeit Rilke auf. Sie kochten zusammen, sie aßen zusammen, sie spülten zusammen, sie diskutierten und arbeiteten zusammen, und sie gingen zusammen in dem benachbarten Grunewald spazieren. In ihrem Verhältnis mit dem jungen, noch unfertigen Dichter war Lou für Rilke sowohl Geliebte als auch mütterliche Freundin und intellektuelle Lehrerin und Erzieherin. Die Überschwänglichkeit seines Ausdrucks missfiel ihr sehr und musste ihm abgewöhnt, aberzogen werden. Sie vermittelte ihm Nietzsches Gedankenwelt und begeisterte ihn für ihre Heimat, Russland. Er lernte Russisch, beschäftigte sich mit der russischen Literatur und versuchte, Iwán Turgéniew und Leo Tolstój im Original zu lesen. Unter Lous Anleitung bereitete er auch die Reisen vor (seine eigene Italienreise, und gemeinsame Russlandreisen). Unter ihrem Einfluss änderte er sogar seinen Vornamen von René zu Rainer sowie seine Handschrift. Lou blieb es nicht verborgen, dass ihr Geliebter hochsensibel und psychisch labil ist. Aus dieser Erkenntnis zog sie den richtigen Schluss, dass seine innere Abhängigkeit von ihr nicht wie bisher stetig wachsen sollte. Als Gegensteuerung schlug sie ihm im Frühjahr 1898 eine Italienreise vor. Um ihm ihre Abwesenheit erträglicher zu machen, sollte er für sie ein Tagebuch führen. Er beherzigte diesen Vorschlag und gestaltete das Tagebuch als eine Art Reisebericht für die Geliebte. Seine Reise führte ihn im April 1898 auch nach Florenz. Dort lernte er den Worpsweder Maler Heinrich Vogeler kennen, der für ihn in der Zukunft eine bedeutende Rolle spielen sollte.
Reisen. Unter ihren Reisen erwähnenswert sind hier ihre beiden, in den Jahren 1899 und 1900 unternommenen Russlandreisen. Während ihrer zweiten, ausführlicheren Russlandreise, die vom 7.5. bis zum 26.8.1900 gedauert hat, waren sie in der Pfingstwoche in Kiew. Hier soll Rilke Eindrücke gesammelt, Erfahrungen gemacht und Empfindungen gehabt haben, die wesentlich zu seinem Stundenbuch beigetragen haben, das in der Weltliteratur zu der Spitzenklasse gehört. Aber er hat zugleich, vielleicht in einem tieferen Zusammenhang mit seiner Fähigkeit zu solchen Eindrücken, Erfahrungen und Empfindungen, auch Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die den Anfang vom Ende der Liebesbeziehung gebildet haben. Er soll bei dem gewohnten Spaziergang durch einen schönen Akazienwald in Kiew nicht in der Lage gewesen sein, an einem bestimmten Baum vorbeizugehen und habe sich aus Angst davor zu Boden geworfen, habe Weinkrämpfe und "Angstverfassungen und körperliche Anfälle" dargeboten [Lebensrückblick, S. 145 und 277]. Lou war erschrocken und entsetzt. Eine innere Distanzierung von dieser bizarr anmutenden Person, die sie für krank hielt, kündigte sich in ihr allmählich an. Wenige Tage später, am 28.7.1900, machte sie allein einen Abstecher nach Rongas in Finnland, um ihre Familie zu treffen, die sich dort gerade zum Sommerurlaub aufhielt, und blieb bis zum 20. August bei ihnen. Dort fasste sie den Entschluss, sich von Rilke zu trennen. Die faktische Beendigung der Liebesbeziehung erfolgte erst Ende Februar 1901. Durch eine lebenslange Freundschaft blieben sie jedoch weiterhin verbunden.
Wann ist das Ende einer Liebe? Diese Frage erhält einige Antworten aus Lous Tagebuchnotizen ab Silvesterabend 1900. Jede(r) mag sie selbst interpretieren. Dem tragischen Verstehen wird sich jedoch niemand entziehen können. An dem genannten Silvesterabend notiert Lou in ihrem Tagebuch: "Was ich will vom kommenden Jahr, was ich brauche, ist fast nur Stille, - mehr Alleinsein, so wie es bis vor vier Jahren war. Das wird, muss wiederkommen" (RMR-Brw S. 49). Und am 10. Januar 1901: "Schlecht war ich auch gegen Rainer, aber das tut mir nie weh" (RMR-Brw S. 50). Zehn Tage später, am 20.1.1901, schreibt sie: "Damit R. fortginge, ganz fort, wäre ich einer Brutalität fähig. (Er muß fort!)". Und wir lesen einen Tag danach: "Mich vor R. mit Lügen verleugnet" (RMR-Brw, S. 51). [Hier steht die Abkürzung "RMR-Brw" für "Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé]. → Eintrag Nr. 15 in Briefwechsel.]
Wie beim drohenden Sterben jeder Liebe, fanden auch hier Gespräche, Aussprachen, Unterredungen zwischen den Liebenden statt. Aber Einzelheiten darüber sind nicht erhalten und bekannt. Jedenfalls ahnte und wusste Rilke schon, dass er die Geliebte bald und unwiederbringlich verliert, und war, wie von einer Naturgewalt getroffen, untröstlich erschüttert und auch verletzt. Irgendwann in dieser Zeit muss eine allerletzte Aussprache und ein Abschied voneinander stattgefunden haben. Das geht aus dem gleich zu erwähnenden Abschiedsbrief Lous hervor. Vermutlich unmittelbar nach diesem persönlichen Abschied hat er das folgende Gedicht an Lou geschrieben, das erhalten ist:
I
Ich steh im Finstern und wie erblindet,
weil sich zu Dir mein Blick nicht mehr findet.
Der Tage irres Gedränge ist
ein Vorhang mir nur, dahinter Du bist.
Ich starre drauf hin, ob er sich nicht hebt,
der Vorhang, dahinter mein Leben lebt,
meines Lebens Gehalt, meines Lebens Gebot -
und doch mein Tod -.
II
Du schmiegtest Dich an mich, doch nicht zum Hohn,
nur so, wie die formende Hand sich schmiegt an den Ton.
Die Hand mit des Schöpfers Gewalt.
Ihr träumte eine Gestalt -
da wurde sie müde, da ließ sie nach,
da ließ sie mich fallen, und ich zerbrach.
III
Warst mir die mütterlichste der Frauen,
ein Freund warst Du, wie Männer sind,
ein Weib, so warst Du anzuschauen,
und öfter noch warst Du ein Kind.
Du warst das Zarteste, das mir begegnet,
das Härteste warst Du, damit ich rang.
Du warst das Hohe, das mich gesegnet -
und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.
Seine Verletztheit ist offensichtlich. Aber besonders verletzend auf ihn muss der seltsame Abschiedsbrief gewirkt haben, den Lou ihm am 26.2.1901 abgeschickt und überschrieben hat als: Letzter Zuruf. Darin scheint sie den Realitätssinn oder -bezug ein wenig verloren zu haben und verschiebt die Tatsachen, als ob ihre wahnsinnige Liebe zu Rilke in den vergangenen vier Jahren nur aus mütterlichem Pflichtgefühl oder gar aus Mitleid geschehen wäre. Vielleicht hatte sie die Grausamkeit ihres Wegstoßens auch selbst bereits beim persönlichen Abschied erkannt oder gespürt, weshalb sie die am Ende ihres Letzten Zurufs genannten Worte auf der Rückseite einer Milchrechnung von Rilke eilig hingekritzelt hat: "Wenn einmal viel später Dir schlecht ist zu Muthe, dann ist bei uns ein Heim für die schlechteste Stunde" (RMR-Brw, S. 56, Fußnote 1). Rilke wird davon später nicht nur in der Tat Gebrauch machen, sondern dank dieses warmen Zurufs seine Verletztheit soweit ertragen und auch vielleicht verwinden und vergessen, dass er zehn Jahre später in Duino immer noch in tief empfundener Liebe an sie denken und ihr ein Gedicht des Namens An Lou Andreas-Salomé widmen wird:
I
Ich hielt mich übertroffen, ich vergaß,
daß draußen nicht nur Dinge sind und voll
in sich gewohnte Tiere, deren Aug
aus ihres Lebens Rundung anders nicht
hinausreicht als ein eingerahmtes Bild;
daß ich in mich mit allem immerfort
Blicke hineinriß: Blicke, Meinung, Neugier.
Wer weiß, es bilden Augen sich im Raum
und wohnen bei. Ach nur zu dir gestürzt,
ist mein Gesicht nicht ausgestellt, verwächst
in dich und setzt sich dunkel
unendlich fort in dein geschütztes Herz.
II
Wie man ein Tuch vor angehäuften Atem,
nein: wie man es in eine Wunde preßt,
aus der das Leben ganz, in einem Zug,
hinauswill, hielt ich dich an mich: ich sah,
du wurdest rot von mir. Wer spricht es aus,
was uns geschah? Wir holten jedes nach,
wozu die Zeit nie war. Ich reifte seltsam
in jedem Antrieb übersprungner Jugend,
und du, Geliebte, hattest irgendeine
wildeste Kindheit über meinem Herzen.
III
Entsinnen ist da nicht genug, es muß
von jenen Augenblicken pures Dasein
auf meinem Grunde sein, ein Niederschlag
der unermeßlich überfüllten Lösung.
Denn ich gedenke nicht, das, was ich bin
rührt mich um deinetwillen. Ich erfinde
dich nicht an traurig ausgekühlten Stellen,
von wo du wegkamst; selbst, daß du nicht da bist,
ist warm von dir und wirklicher und mehr
als ein Entbehren. Sehnsucht geht zu oft
ins Ungenaue. Warum soll ich mich
auswerfen, während mir vielleicht dein Einfluß
leicht ist, wie Mondschein einem Platz am Fenster.
Worpswede. Das malerische Künstlerdorf Worpswede liegt am Südrand des Teufelsmoors in Niedersachsen - in der Nähe von Bremen. Nach ihrem Erlebnis im Akazienwald in Kiew und insbesondere nach ihrer Entscheidung in Rongas, Finnland, als sie dort ihre Familie besuchte, hatte sich Lou innerlich von Rilke zunehmend distanziert. Sie hatte ihm damals schon einen Besuch und Aufenthalt in Worpswede bei dem Maler Heinrich Vogeler vorgeschlagen, den Rilke während seiner Italienreise in Florenz kennengelernt hatte. Fast nach vier Monaten Russlandreise trafen sie am 26. August 1900 wieder in Berlin ein. Gleich am nächsten Tag fuhr Rilke tatsächlich nach Worpswede. Er wollte dort mit dem Maler Heinrich Vogeler den Gedichtband Mir zur Feier fertigstellen. Bei den dortigen Künstlern fand er schnell Resonanz. Deshalb konnte er bald, 1901 schon, nach der Trennung von Lou in dieses Dorf ziehen. Hier lernte er gleich die Bildhauerin Clara Westhoff kennen, die er im April 1901 heiratete. Im selben Jahr bekamen sie eine Tochter. Sie erhielt den Namen "Ruth", den Titel des ersten Romans von Lou, den er damals gelesen hatte, bevor er sie traf und sich in sie verliebte. Aber ein richtiges Familienleben konnte mit Clara nicht entstehen. Man trennte sich wieder in Freundschaft voneinander.
Letzte Stationen. Rilkes spätere Lebensstationen sind Paris (1904-1914) und Schweiz (1919-1926). Wegen seiner Krankheit, die ihn schon seit 1923 wiederholt geplagt und zu Aufenthalten in Sanatorien gezwungen hat, kommt er auch im Dezember 1926 wieder in das Sanatorium Val-Mont bei Montreux. Am 29. Dezember 1926 stirbt er dort an Leukämie. Am 2.1.1927 wird er in Raron (Rarogne) im Kanton Wallis beigesetzt, so wie er testamentarisch verfügt hat, "auf dem hochgelegenen Kirchhof neben der alten Kirche zu Rarogne zur Erde gebracht zu sein. Seine Einfriedung gehört zu den ersten Plätzen, von denen aus ich Wind und Licht dieser Landschaft empfangen habe". Sein Grabspruch lautet auf eigenen Wunsch:
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern.
Letzte Fragen. Die Episode Rilke in Lous Leben wirft einige Fragen auf, die für alle gewöhnlichen Lieben, von denen auch Lous glorifizierte und legendäre Liebe zu Rilke (nicht umgekehrt) eine zu sein scheint, vernichtend sind: Warum hat sich Lou damals im Akazienwald in Kiew nicht auch zu Boden geworfen, um mit ihrem weinenden Geliebten zu weinen, anstatt darüber entsetzt zu sein? Warum hat sie unmittelbar nach diesem Erlebnis lieber sein Bett gemieden (→ Zweite Russlandreise Lou/Rilke), als ihn wie bisher in der Dunkelheit seiner einsamen Nächte weiterhin in ihre Arme zu schließen, damit seine Angst weniger, jedoch nicht mehr wurde? Warum "ließ sie ihn fallen, so daß er zerbrach"? Was verstand sie unter Liebe? Was ist Liebe?