Lous Leben in Berlin
Nach dem Kennenlernen von Paul Rée und Friedrich Nietzsche in Rom im Frühjahr 1882 ging es über Luzern, Zürich und Hamburg schließlich nach Berlin. Hier lebte Lou ab Ende 1882, zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt, mit Paul Rée drei Jahre lang in einer Wohngemeinschaft - in einer Dreizimmerwohnung in einer Pension - in der Hedemannstraße in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Den ursprünglichen Plan, ihre Zweieinigkeit in Paris niederzulassen, hatten sie nach dem Tode des Dichters Iwán Turgéniew aufgegeben, der Lou angezogen hatte. Während für den aus der Dreieinigkeit "ausgestoßenen" Nietzsche die hasserfüllt-grausame Periode seines leidvollen Lebens begann, konnte Lou an der Seite von Rée den drei schönsten Jahren ihrer Jugend entgegensehen.
Ihr Freundeskreis bestand ursprünglich aus Rées alten Bekannten. Er entwickelte sich bald zu einem größeren Kreis, der sich vorwiegend aus Wissenschaftlern, vielfach Dozenten, zusammensetzte (wie zum Beispiel: Georg Brandes, Hans Delbrück, Paul Deußen, Hermann Ebbinghaus, Julius Gildemeister, Hugo Göring, Wilhelm Grube, Paul Güßfeldt, W. Halbfaß, Ludwig Haller, Max Heinemann, Ferdinand Laban, Rudolf Lehmann, Heinrich Romundt, Georg Runze, Carl von Schulz, Heinrich von Stein, Ferdinand Tönnies und andere). In diesem Kreis hieß Rée "die Ehrendame", weil Lou unter lauter Männern die einzige Frau war und umschwärmt und umworben wurde, insbesondere von Ebbinghaus und Tönnies. Sie selbst hieß "die Exzellenz" [Lebensrückblick, S. 86]. Es fanden philosophische und auch naturwissenschaftliche Diskussionen statt, die Lou beglückten. Der Melancholiker und Pessimist Rée lebte zwar allmählich auf. Aber seinen Minderwertigkeitskomplex und Selbsthass, den man mit seiner jüdischen Abstammung in Zusammenhang bringt, wurde er nicht los.
Lous erstes Buch, der philosophisch-psychologische Roman Im Kampf um Gott, das sie 1883-84 in Gries-Meran unter dem Pseudonym "Henri Lou" geschrieben hatte, erschien 1885. Sie behandelte darin die folgende, interessante Frage, die genau zu ihrem Wesen und ihrer Biographie passt: Was geschieht, wenn der Mensch seinen Glauben verliert? Es blieb den Rezensenten und Kritikern nicht verborgen, dass der Autor eine Autorin ist. Das Buch erfuhr gute Kritiken und machte Lou über Berlins Grenzen hinaus bekannt. Dieser Erfolg ebnete ihr den Weg in weitere Kreise der Gesellschaft und Kultur. Nach ihrer Eheschließung (→ Ehe) mit Friedrich Carl Andreas im Jahre 1887 und durch ihn kam sie auch in den Kreis der Schriftsteller und Künstler und knüpfte Kontakte zu Verlegern.
Im Jahre 1890 war das Theater Freie Volksbühne, die spätere Berliner Volksbühne, (von Bruno Wille) gegründet worden mit der Absicht, auch Arbeitern Kunst nahezubringen. Mit Stücken des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen wurden die Aufführungen eingeleitet. Das Theater diente anfangs besonders demliterarischen Naturalismus. Zu dem Freundeskreis der Bühne und des literarischen Naturalismus gehörten neben dem Naturwissenschaftler Wilhelm Bölsche, der eine richtungweisende Schrift ("Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie", 1887) verfaßt hatte, die Dichter Gerhart Hauptmann und August Strindberg, der um diese Zeit in Berlin lebte, und andere wichtige Personen (wie zum Beispiel: Otto Brahm, Richard Dehmel, Max Halbe, Maximilian Harden, Heinrich Hart, Julius Hart, Carl Hauptmann, Fritz Mauthner, Johannes Schlaf, Bruno Wille). Durch ihren Ehemann Friedrich Carl Andreas fand Lou Kontakt zu diesem Kreis und wurde bald von manchen seiner Mitglieder, so zum Beispiel von Gerhart Hauptmann (→ Hauptmann) selbst und von Maximilian Harden, unverkennbar verehrt. Das Theater wurde ergänzt und begleitet von der Theater- und Literaturzeitschrift Freie Bühne. In ihr veröffentlichte auch bald Lou selbst Artikel, Kritiken und Rezensionen. Durch den Freundeskreis, das Theater und die Zeitschrift intensivierte sich ihr bereits vorhandenes Interesse für die Dramen von Henrik Ibsen, die sich oft mit Eheproblemen beschäftigen und mit einer Frage, die sie angesichts ihrer eigenen Eheprobleme gefesselt haben muss, nämlich: Wie muss eine Ehe aussehen, wenn sie auch der Selbstverwirklichung Spielraum gewähren soll? Die Beschäftigung damit regte sie zu ihrem bedeutenden Buch Henrik Ibsens Frauengestalten (1892) an, das ihr zu einem größeren Ansehen und Ruhm verhalf. Interessanterweise konnte sie sich Ibsens Werke erst durch die Hilfe ihres Ehemanns erschließen, weil es damals noch keine deutschen Übersetzungen davon gab. Dank seiner nordischen Sprachkenntnisse las dieses Sprachgenie sie ihr übersetzend vor und förderte auf eine selbstlose, rührende Weise, nicht unähnlich einem stolzen Vater, ihre Schriftstellerei, wo er nur konnte.
Das Schreiben war ihr inzwischen in der Tat zum Beruf geworden. So wurde sie durch ihre eigenen Einkünfte von der finanziellen Unterstützung, die ihre Familie aus St. Petersburg bisher geleistet hatte, zunehmend unabhängig. Das Ehepaar hatte zunächst mehrere Jahre in der Junggesellenwohnung des Mannes in Berlin-Tempelhof gehaust und konnte sich erst später ein größeres, schönes Haus, ebenfalls in Tempelhof, mieten. Genau zu dieser Zeit, 1891-92, während sich Lou angesichts ihrer unglücklichen Ehe psychologisch mit ihren eigenen Eheproblemen beschäftigte und sie literarisch verarbeitete, begegnete sie einem Redakteur der sozialdemokratischen Berliner Volkszeitung, Georg Ledebour. Hier begann die lange Geschichte ihres außerehelichen Liebeslebens (→ Liebschaften). Der erste Höhepunkt dieses neuen Lebens war die wellenförmig verlaufene Episode mit Friedrich Pineles (→ Liebschaften). Wenig später wurde er von der Episode Rilke (→ Liebschaften) übertroffen, die wohl zu den bewegendsten Liebesgeschichten der neueren Zeit gehört. In diesem neuen Lebensabschnitt war Lou oft auf Reisen.
Mitte Oktober 1892, während Lou sich von ihrem Liebhaber Ledebour schmerzhaft trennen muss, trennt sich das Ehepaar unabhängig davon auch von dem schönen, großen Haus in Tempelhof und zieht in eine kleine Wohnung in Schmargendorf im heutigen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf um. In dieser Wohnung stellt Lou im Jahre 1901 eine Haushälterin ein, Marie (→ Marie), die ihren Mann versorgt, wenn sie selbst auf Reisen ist. Im März 1903 beziehen sie für nur kurze Zeit ihre letzte Berliner Wohnung, ein schönes, geräumiges Haus in der Rüsternallee in Berlin-Westend. In dieser Zeit, im Juni 1903, erhält nämlich der Ehemann endlich die Anerkennung, die er als ein großer Wissenschaftler verdient, seine Berufung als Professor an die Universität Göttingen (→ Ehemann).