Rätselleben
Manche Leute, hohle Stars und Politiker zuvörderst, schreiben mit vierzig oder fünfzig Jahren schon ihre Memoiren, weil entweder sie sich selbst zu wichtig vorkommen oder weil sie nichts zu sagen haben, meistens beides. Nichts kann den Kontrast dazu deutlicher zeigen als der Lebensrückblick der gereiften Lou Andreas-Salomé. Sie hält ab 1931, als sie also bereits 70 Jahre alt ist und ein erlebnisreiches Leben hinter sich hat, eine Rückschau und will ihr Leben jetzt als etwas Ganzes betrachten, indem sie sich noch einmal gründlich "zum Grunde hin" bewegt. Dabei werden die erlebten Momente nicht als vergangene einzelne Teile ihres Lebens in einer Zeitreihe aufeinander folgend und nebeneinander angeschaut, sondern "nun alles in einer Gegenwart". Offenbar wegen der Weite der Perspektive und der Tiefe des Blicks kommt die Betrachterin nicht zu einem Ende, das Werk bleibt unvollendet, als sie 1937 stirbt. Aber was dabei herauskommt, macht es auch verständlich, warum sie nicht zu einem Ende kommen konnte: Nicht nur Das Leben, sondern ihr eigenes Leben voller unverständlicher Ereignisse und Erlebnisse ist für sie ein Rätsel, es ist ein Rätselleben. In einem Kontext, wo sie über das Unvergängliche der Vergänglichkeiten, nämlich über die ihnen allen gemeinsame Vergänglichkeit, reflektiert, spricht sie es klar aus:
"Abgesehen davon, ist das personale Einzelerleben nicht gar so wichtig wie wir es gern nehmen: an welchem Stück Dasein es uns zufiel, das Dasein in Glücken und Schmerzen auszuproben. Kann doch der geringste, scheinbar belangloseste seiner Inhalte Unerschöpfliches weisen, kann doch auch am glanzvollsten, erfolgreichsten das Gesamtbild nicht umhin, unsern menschlichen Augen unerkannt zu bleiben. Denn ihnen bleibt es ein Vexierbild: hält es doch uns selber mit-eingezeichnet in ein offenes Geheimnis" [Lebensrückblick, S. 183].
Bereits als zwanzigjähriges Mädchen, als Lou 1881/82 wegen ihrer schweren Krankheit (Bluthusten: also wahrscheinlich Lungentuberkulose) ihr Studium (→ Studium) in Zürich aufgeben und in wärmere Gegenden ziehen mußte, hat sie das Gedicht geschrieben: Lebensgebet. Wie hat sie zu dieser Zeit das Leben empfunden? Und wie hat sie dazu gestanden? Es scheint, in ihrem Grundempfinden hat sich nichts geändert, sie ist sich selbst treugeblieben, würde sie es selbst wohl sagen. Das zeigt uns die erste Strophe ihres genannten Lebensgebets.