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Berlin
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Brief an Hendrik Gillot
Bülow, Frieda von

Lous Brief an Hendrik Gillot

Sie werden gewiß, geehrter Herr Pastor, mit einiger Verwunderung diese Zeilen überfliegen, - entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie damit belästige und störe. Es ist vielleicht eine große Dreistigkeit, einer Ihnen völlig Fremden, sich an Sie zu wenden, aber das einmal geweckte Bedürfniß nach Wahrheit und Licht läßt sich ja nicht unterdrücken und darin liegt der Grund meines Schreibens. Ich weiß nicht, ob eine Bitte, wie ich sie auf dem Herzen habe, überhaupt Gehör finden kann, die Bitte nämlich, sich schriftlich an Sie richten zu dürfen, wenn nicht zu beschwichtigende Zweifel und Fragen sich vordrängen. Ich kann mir ja denken, wie theuer Ihnen Ihre Zeit sein muß, wie wenig Aussicht ich auf eine günstige Antwort habe und dennoch, ich wage sie, die Bitte.

Die Ihnen schreibt, Herr Pastor, ist ein siebzehnjähriges junges Mädchen, das mitten in seiner Familie und Umgebung einsam dasteht, einsam in dem Sinne als Niemand seine Ansichten theilt, geschweige denn den Drang nach umfassender Erkenntnis stillt. Vielleicht ist es meine ganze Denkungsweise, die mich von den meisten Altersgenossinnen und von unserem Kreise isoliert, - es gibt ja kaum etwas Schlimmeres für ein junges Mädchen hier, als in seinen Neigungen und Abneigungen, in seinem Wesen und in seinen Ansichten von der Regel abzuweichen - aber es ist so bitter, alles in sich selbst zu verschließen, weil man sonst Anstoß giebt, bitter so ganz allein zu stehen, weil man jene leichte, gefällige Art entbehrt, welche sich das Vertrauen und die Liebe der Menschen erwirbt und erbittet.

Schon vor mehreren Jahren verließ mich der buchstäbliche Glaube mit seinem starren: "es steht geschrieben", und, gleich abgestoßen von der finsteren Orthodoxie, wie vom nüchternen Rationalismus unserer Tage, begann ich nach der Wahrheit zu tasten. Da ich äußerlich unter Andersdenkenden und Andersfühlenden immer kalt, still, verschlossen war, ahnte Niemand etwas von den rebellischen Gedanken in mir, bis der Konfirmationsunterricht mit seinen Gewissensfragen, sowie einige Ereignisse, die mich mächtig beeinflußten, mich zu selbständigem Reden und Handeln aufriefen. Ich schüttelte alle bunten Träumereien, alle angeborene Schüchternheit ab und sprengte die Fesseln, mit denen anerzogene [?] Grundsätze und Satzungen den menschlichen Geist und das echt Menschliche überhaupt hemmen wollen. Sie können sich denken, mit welcher Begeisterung ich Ihre Predigten besuchen würde, wenn mir die Verhältnisse nicht verbieten würden, dies öfter zu thun: unsere ganze Familie bekennt sich zu Herrn Pastor Dalton und seinen Ansichten, und dieses Frühjahr sollte ich bei ihm eingesegnet werden. Nachdem meine Streitfragen während der Stunden wohl schon die Vermutung bei ihm wachgerufen hatten, daß ich von seiner Anschauungsweise stark abwich, erklärte ich ihm 2 Monate vor der Konfirmation, daß ich gegen meine innerste Überzeugung konfirmiert werden würde und so ist denn die Einsegnung um ein Jahr hinausgeschoben. Im Grunde ist damit nichts gewonnen, wenn ich mich nächsten Winter nicht dazu bequeme, beizustimmen und zu schweigen, was nahezu eine absolute Unmöglichkeit ist.

Es ist schön für eine ernste, heilige Wahrheit zu leiden, zu kämpfen, zu opfern, und wie gerne wollte ich das. Aber es ist unbeschreiblich schwer, still zu sein, sich zu beugen, wenn die ganze Seele glüht zu sterben, zu ringen, zu handeln. Ich kann mir nicht die Binde vor das Gesicht legen lassen, um das Licht nicht zu sehen, vor welchem so viele die Augen schließen, weil es sie ... blendet, kann nicht die Toleranz gutheißen, welche mit schonungsloser Erbarmungslosigkeit Tausende verdammt, die sich mit ihrem heißen Herzen für alles Große, Erhabene, Edle, Schöne begeistern, denen aber der Himmelsschlüssel fehlt ... der blinde Glaube. Wie ich mich nächstes Jahr bei H. Pastor Dalton einsegnen und das bei ihm übliche Glaubensbekenntniß schreiben werde, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich nie, nie der engherzigen Anschauungsweise der berechnenden Reinlichkeit das Wort sprechen werde, gegen die sich jeder Blutstropfen empört. Sie können sich vorstellen, Herr Pastor, mit welcher verzweifelten Energie sich ein Mensch dahinrichtet, wo ihm Licht winkt und wie dringend die Bitte ist, die ich am Beginn des Briefes aussprach. Deuten Sie diesen Schritt nicht falsch, Herr Pastor, der mich Ihnen schreiben ließ, auch in einem Mädchen kann eine wilde, unbezähmbare Sehnsucht nach allem Ideellen leben und jeden anderen Gedanken so zurückdrängen, daß nur noch ein Entschluß unerschütterlich vor ihm steht: "um jeden Preis!".

Bitte adressieren Sie die Zeilen, welche mir die gefürchtete und gehoffte Antwort bringen wird wie folgt: Dimidov-Straße, Haus Lischin, Nr. 5, Wohnung N5, an Fjodor Wassiljevitsch Wilm, für Louise Gustavovna Salomé.

Mit der innigen Bitte um Verschwiegenheit achtungsvoll

Louise Salomé

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Quelle: Lebensrückblick, S. 317-320. Eintrag Nr. 154 in (→ Alle Werke).